Berlin - Klimawandel, Energiekrise, Krieg: Die vielzitierte Zeitenwende ist auch bei Neil Young angekommen - und der große Erzähler reagiert auf seine Weise: mit einem «Wumms» namens «World Record». Noch einmal hat der 76 Jahre alte Sänger, Songwriter und Gitarrist seine legendäre Band Crazy Horse zusammengetrommelt und ein Album voller Hoffnung und Leidenschaft aufgenommen.
Die Botschaft: Ja, die Lage ist schwierig, aber es ist nicht zu spät. Hak dich unter - wir schaffen das!Im Studio von Starproduzent Rick Rubin sind dem Quartett zehn neue Lieder mit großer Bandbreite von Folk über Country bis Rock gelungen - und mit hörbarer Spielfreude. Das zeigt bereits der zarte Opener «Love Earth». Sparsam mit entspannter Gitarre und einem klimpernden Klavier eingespielt - und voller Optimismus. Liebe kommt immer zurück zu dir, stell dir saubere Luft und Frieden für Kinder vor, ja, das ist nur ein Traum, aber das heißt nicht, dass es unmöglich ist.
Das erste Lied setzt den Ton für das etwa 50 Minuten lange Album. Daran knüpft «Overhead» an, dominiert von Orgel, Mundharmonika und Chorgesang, und das melancholische «This Old Planet». Dazwischen wechselt Crazy Horse in den Galopp. Ein pumpender Bass beherrscht «The World (Is In Trouble Now)». Das gitarrenlastige «I Walk With You» ist eine hymnenartige Ballade im besten Neil-Young-Stil.
«No More War - Only Love» singt Young, und ständig droht seine markante Fistelstimme abzukippen. Hier singt jemand gegen eine Weltuntergangsstimmung an, begleitet vom stampfenden Sound der Band Bassist Billy Talbot (79), Schlagzeuger Ralph Molina (79) und Gitarrist Nils Lofgren (71). Man sollte sich aber auch auf ungewohnte Klänge gefasst machen: Young spielt unter anderem Harmonium sowie ein zitherähnliches Instrument namens Marxophone.
Die Melodien seien ihm beim Wandern durch die Berglandschaft in Colorado eingefallen, erzählt Young in einem Interview. Innerhalb von zwei Tagen habe er acht Songs geschrieben. «Die Musik auf diesem Album ist etwas ganz Besonderes für mich», betont der gebürtige Kanadier. «Echte Magie ist von Dauer, und wir denken, wir haben sie.»
Neil Young & Crazy Horse veröffentlichten ihr Debüt «Everybody Knows This Is Nowhere» bereits 1969. Auf «World Record», dessen Cover ein Foto von Neil Youngs 2005 gestorbenem Vater Scott ziert, beweisen die Gruppe und ihr Frontmann, dass sie im Hier und Jetzt stehen.
Höhepunkt eines an Glanzpunkten reichen Albums ist das mehr als 15 Minuten lange «Chevrolet», eine Hymne auf die ikonische US-Automarke. Über wenige Themen hat der Autofan Young wohl mehr Lieder geschrieben als über Fahrzeuge. Seine Garage steht voller Oldtimer. «Chevrolet» ist ein epischer Song voller Sehnsüchte, der unter die Haut geht, aber der vielfach für den Umweltschutz engagierte Songwriter übt auch Fortschrittskritik: Autos gehören für ihn zum amerikanischen Wandergeist - aber die Zeit fossiler Brennstoffe ist vorbei.
Erst vor einem Jahr hatten Young und seine «verrückten Pferde» das erfolgreiche «Barn» vorgelegt. In diesem Jahr kamen bereits das schon 2001 eingespielte Album «Toast» sowie das Live-Album «Noise & Flowers» mit der Band Promise Of The Real - und jetzt «World Record».
Viel Stoff für Neil-Verehrer, und es wird noch mehr: Schon am 2. Dezember 2022 wird eine üppige Box an die Veröffentlichung von Youngs Bestseller «Harvest» inklusive des Superhits «Heart Of Gold» vor 50 Jahren erinnern. Für sein Durchbruch-Album mietete der Musiker seinerzeit das London Symphony Orchestra. Auch wer Neil Young nicht kennt - die Sehnsuchtsballade «Heart Of Gold» wurde zum Welthit.
Der kanadische Kreativkopf hat das stets als Fluch und Segen gesehen. ««Heart Of Gold» brachte mich auf die Mitte der Straße», sagte Young einmal. «Dort zu verweilen, wurde für mich schnell langweilig, so steuerte ich auf den Graben zu. Eine schwierigere Fahrt, aber ich lernte dort interessantere Leute kennen.» Die Jubiläumsauflage des Countrypop-Albums von 1972 kommt mit vielen bisher unveröffentlichten Aufnahmen daher - eindringlich und stilprägend. Ein frühes Spätwerk.
Neil Young & Crazy Horse: World Record
Label: Reprise Records (Warner)
Veröffentlichung 18. November