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Mangel an Musikalität in der Gesellschaft bedroht Thomanerchor

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Leipzig - Einen Mangel an musischer Bildung in Deutschland beklagt der Leipziger Thomaskantor Georg Christoph Biller. "Die Gesellschaft ist unmusischer geworden in den vergangenen zwanzig Jahren", sagte Biller im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dapd. Er befürchtet, dass dies sich auf lange Sicht auch ungünstig auf den Leipziger Thomanerchor auswirken könnte, der in diesem Jahr mit einer Festwoche vom 19. bis 25. März seinen 800. Geburtstag feiert.

Es gebe nur noch wenige, die sich mit Musik beschäftigten, erklärte Biller. "Die Allgemeinheit macht weniger Musik als früher", fügte der Thomaskantor hinzu. Der Thomanerchor sei aber angesichts des Alters, in dem er die Kinder für eine Ausbildung gewinnen wolle, auf ein allgemeines musisches Interesse in Familien und der Schule angewiesen. "Und darauf wirken wir hin, dass da wieder ein anderes Klima entsteht, aus dem heraus es eine größere Selbstverständlichkeit gibt, sich mit Musik zu befassen und auch die Anlagen schon früher zu wecken", sagte Biller.

Um dies umzusetzen, wurde das "forum thomanum" als Informations- und Förderinstitution für Kinder und Jugendliche eingerichtet. "Das Forum meint eine Zukunftsperspektive, die wir vor allem in unserem Jubiläumsjahr deutlich machen wollen", erläuterte der 16. Thomaskantor seit Johann Sebastian Bach. Es gehe nicht nur darum, die Geschichte des Chores zu feiern, sondern auch darum, auf die Zukunft hinwirken, fügte er hinzu. Biller feiert im November den 20. Jahrestag seiner Amtsübernahme.

Thomanerchor singt seit 800 Jahren zum Lob Gottes

Der im Jahr 1212 gegründete Thomanerchor ist einer der ältesten Knabenchöre überhaupt. Im Mittelalter sang der Chor während der Gottesdienste, bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen. Mit ihren Auftritten "bezahlen" die Thomaner für den Unterricht an der Thomasschule und die Unterkunft. Die Thomasschule ist Leipziger Bürgerkindern zugänglich und gilt daher als Deutschlands älteste öffentliche Schule. Über einen Zeitraum von 300 Jahren blieb sie auch Leipzigs einzige Schule.

Der Thomanerchor hat rund 90 Mitglieder, die im Alumnat, dem sogenannten "Kasten" leben. Bis zum Jahr 2013 wird das Alumnat umgebaut, sodass dann etwa 120 Sänger untergebracht werden können.

Für die Auftritte der Thomaner in der Thomaskirche, etwa bei den Motetten freitags, samstags und sonntags, wird grundsätzlich kein Eintritt verlang. Der Thomanerchor ist neben dem Gewandhausorchester der bekannteste und erfolgreichste Botschafter für die Stadt Leipzig im In- und Ausland. Es sind zahlreiche Aufnahmen des Thomanerchors unter den verschiedenen Thomaskantoren erschienen. Heute untersteht der Chor dem 16. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach, Georg Christoph Biller.

Die wirtschaftliche Bedeutung des Thomanerchores

Dem weltberühmten Thomanerchor macht die Flaute auf dem Markt für Produktionen mit klassischer Musik zu schaffen. Mit CD-Verkäufen sei in diesem Marktsegment kein Geld zu verdienen, sagte Stefan Altner, Geschäftsführer des Chores, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dapd. Bei Tourneen durch das In- und Ausland sehe das anders aus. "Nach Abzug der Kosten für Flüge, Unterkunft und Verpflegung können wir sagen: Von Reisen bringen die Thomaner immer Geld mit."

Allerdings, so räumt Altner ein, ist das Wirtschaftsunternehmen Thomanerchor für die Stadt zunächst einmal ein Kostenfaktor. Aus dem städtischen Haushalt bekommen der Knabenchor und die Thomasschule in diesem Jahr rund 2,5 Millionen Euro. Im Gegenzug sind für den Chor nahezu 315.000 Euro auf der Einnahmeseite angesetzt. Dazu gehörten Erlöse aus Konzertreisen oder die Beiträge, die von den Eltern für die Unterbringung im Alumnat und für Instrumentalunterricht zu zahlen seien.

Dass es nicht mehr sei, liege nicht nur an dem für klassische Musikproduktionen schwierigen Markt. Ein weiteres Problem wiegt laut Altner viel schwerer. "Die Thomaner bekommen nur von den wenigsten Tonträger-Verkäufen die ihnen zustehenden Tantiemen", erklärte der Geschäftsführer. In den Wirren der Wendezeit nach 1989 wurden demnach die Rechte an den Aufnahmen von Unternehmen übernommen, von denen heute viele schon nicht mehr existieren.

Zu DDR-Zeiten hatten westdeutsche Konzertveranstalter laut Altner den Vorteil, dass sie im deutsch-deutschen Kulturaustausch bei Verpflichtung des Thomanerchores mit Zuschüssen und Förderung aus der Schatulle der Bundesrepublik rechnen konnten. "Dieser Ost-Bonus ist natürlich auch weggefallen, wir stehen in direkter Konkurrenz zu anderen Chören und sind dabei sehr erfolgreich", hebt Altner hervor.

Trotz der Zuschüsse, die der Chor von der Stadt erhalte, profitiere Leipzig letztlich finanziell von den berühmten Thomanern. "Der Thomanerchor und das Gewandhaus sind die beiden kulturellen Einrichtungen, die die meiste Anziehungskraft haben und als Kulturbotschafter unschätzbare Dienste für Leipzig leisten", ist sich Altner sicher. Besucher der Stadt, die aus Interesse an den Thomanern nach Leipzig kommen, lassen zusätzliches Geld für Übernachtungen, Verpflegung oder andere Einkäufe da.

 


Geschichtliche Daten des Thomanerchores:

1212: Der Thomaskirche wird eine Schule angeschlossen, aus deren Schülern der Thomanerchor rekrutiert wird.

1409: Der Thomanerchor singt zu den Gründungsfeierlichkeiten der Universität Leipzig, Deutschlands zweitältester Universität mit durchgängigem Lehrbetrieb.

1519: Thomaskantor Georg Rhau führt aus Anlass der Disputation zwischen Martin Luther und Johann Eck eine zwölfstimmige Vokalmusik, eine Motette, in der Thomaskirche auf.

1723: Johann Sebastian Bach übernimmt das Amt des Thomaskantors, das er bis 1750 innehat. Er prägt den Chor nachhaltig.

1920: Erste Auslandstournee des Chores, die ihn nach Dänemark und Norwegen führt.

1921: Der Thomanerbund als Verbindung ehemaliger Thomaner wird gegründet.

1937: Der Thomanerchor wird in die "Hitlerjugend" eingegliedert, bleibt aber bei seiner geistlichen Programmausrichtung.

1954: Der Thomanerbund Frankfurt am Main gründet sich als "Exilorganisation" der Ehemaligen.

1972: Hans-Joachim Rotzsch übernimmt die Leitung des Chores. Er tritt 1991 zurück, nachdem seine Tätigkeit als Informeller Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit bekannt wird.

1992: Mit Georg Christoph Biller wird der 16. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach berufen.

2012: Der Thomanerchor feiert seinen 800. Geburtstag.

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