September 1989. Ein Montag. Ich bin in Leipzig. Mozarts Requiem unter Prof. Kurt Masur im Gewandhaus. Auf dem Weg vom Hotel zum Konzerthaus gehen mein Tenorkollege und ich an der Nicolaikirche vorbei. Alles abgesperrt. Soeben ist ein Gottesdienst zu Ende und Menschen kommen aus der Kirche. Unversehens werden wir Zeugen, wie einige von den Kirchenbesuchern an den Haaren in bereitstehende PKWs gezerrt werden. Wir sind entsetzt. Später dann im Konzert gibt es Standing Ovations für Prof. Kurt Masur, bevor der erste Ton erklingt. Wir waren uns sicher: ein Großteil des Publikums war kurz zuvor in der Nicolaikirche und zeigte somit seine Sympathien dem Leiter des Gewandhausorchesters, der sehr deutlich seine politischen Ansichten geäußert hatte – übrigens auch uns Solisten gegenüber. Wir fanden ihn sehr mutig.
Und dann der 9. November 1989: Paris, Théâtre du Châtelet, Fidelio unter Lorin Maazel. Als Minister (Don Fernando) habe ich einen späten Auftritt erst am Ende der Oper. Zuvor sehe ich im französischen Fernsehen Erstaunliches. Ostberliner auf der Mauer, Menschenmassen quellen nach Westberlin, die totale Euphorie. Hinter der Bühne erzähle ich meinen Kolleginnen und Kollegen, die schon zwei Stunden im Theater sind, davon, keiner glaubt mir. Aber ich weiß dass gerade jetzt auf der Bühne sich die Mauern öffnen, um die Gefangenen des Herrn Pizarro freizulassen, das ist sowas von echt, genau solches passiert gerade live in Berlin. Nach der Vorstellung hingen wir dann alle vor den Fernsehern der umliegenden Cafés. So etwas vergisst man nicht.
Nun haben wir seit 25 Jahren in Gesamtdeutschland 28 Musikhochschulen, 62 weitere musikalische Ausbildungsstätten, 48 kirchenmusikalische Institutionen, 90 Akademien zur Weiterbildung, 923 öffentliche Musikschulen, 518 private Musikschulen und Tausende von Musiklehrern. Klingt ja gut. Aber wir sollten sehr wachsam sein, dass uns dieser kulturelle Schatz nicht abhandenkommt. Orchester und Chöre sind bedroht, Ganztagesschulen und gymnasiale Strukturen grenzen die Freiräume für Musik unserer Kinder und Jugendlichen heftig ein. Ganz zu schweigen von den Damo-klesschwertern TTIP und CETA (Freihandelsabkommen).
Apropos Mozart: Lieber „dies irae“ jetzt als „lacrimosa dies illa“, wenn es zu spät ist.
Kolumne
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25 Jahre – aus autobiographischem Blickwinkel
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