Brücken verbinden. Sie ermöglichen Begegnung, Austausch, Kommunikation und einen Blick ins Weite, Offene. Über „Klangbrücken“ können sich ganz besondere Wege von Mensch zu Mensch erschließen. Das diesjährige Konzertprogramm des Ostbayerischen Jugendorchesters (OJO) steht unter diesem Motto. Es rankt sich um die Aufführung eines Werkes, das gemeinsam mit achtundzwanzig geistig behinderten Kindern und Jugendlichen aus der Cabrini-Schule Offenstetten bei Arensberg erarbeitet wurde: das ‚Lied der Schöpfung’. Es entstand im Auftrag des von den Bezirken Oberpfalz und Niederbayern geförderten Orchesters und seines Leiters Hermann Seitz: der renommierte Komponist Nikolaus Brass hat es geschrieben. Bereits im Verlaufe der sorgsam vorbereiteten Proben entfalteten sich kaum für möglich gehaltene Momente der glückenden Einvernehmlichkeit und Sammlung.
Von Januar bis April hatte Hermann Seitz in vorbereitender Weise mit den Kindern der heil- und sonderpädagogischen Einrichtung in Offenstetten gearbeitet. Zunächst ging es darum, jedes der Kinder des dort bestehenden Cabrini-Chores und eines kleinen Veenharfen-Ensembles (umsichtig betreut und geleitet von den Pädagoginen Doris Gamurar bzw. Corinna Kutscher) in seiner ausgeprägten Besonderheit kennen zu lernen, es und wahr- und schließlich mitzunehmen. Auch Nikolaus Brass war mehrmals anwesend. Im Zeichen des gemeinsamen Projektes beobachtete er das schnell von unverstellter Freude beflügelte Interagieren und Experimentieren mit Liedern, Klang- und Rhythmus-Zellen. Aus den aufkeimenden Erlebnisknospen wählte er sich dann Ausgangspunkte, um „eine Welt, einen musikalischen Raum zu schaffen“, in dem es gelingen könnte, die Trennung von Kindern und Jugendlichen sehr ausgeprägt verschiedener Kompetenz so weit als möglich zu überwinden. Er stellte sich der Herausforderung, integrierend zu komponieren, integrierend in dem Sinne, dass ein quasi voraussetzungsloses, von innerer Beteiligung getragenes Klangerzeugen aufgehoben sein würde im Feld der musikalischen Möglichkeiten eines ambitionierten Jugendorchesters.
Hermann Seitz, bei dem die organisatorischen, konzeptionellen und künstlerischen Fäden der Aktivitäten des OJO zusammenlaufen, ist ein rühriger und überaus einfühlsamer Musiker, dessen Anliegen kaum ins übliche Raster unserer verblendeten Leistungsgesellschaft mit ihrer Wettbewerbs- und Exklusionskultur passt. Er ist inspiriert u.a. von den Ideen des Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser und dessen Konzeption einer integralen Denkungsart, in seiner Arbeitsweise dabei aber keineswegs theorielastig, sondern orientiert am konkreten Tun und Leben. Ihm geht es um wirkliches Miteinander, um das Einebnen von Hierarchien; also nicht: „der Lehrer bringt den Dümmeren was bei oder der Doktor repariert den Kranken, sondern darum, dass irgendwie in jedem Menschen irgendwas ist, was besonders ist, was der andere nicht hat und auch nicht geben kann. Es gilt Umfelder zu schaffen, dass sich jeder entfalten kann. Dies die Idee bei der Arbeit mit den geistig behinderten Kindern. Ich sage einmal: ‚Menschen die auf diese Art behindert sind.’ Wer ist letztendlich nicht behindert, irgendwie. Es gilt nun, zusammen mit dem Orchester eine Begegnung, ein Miteinanderspielen zu organisieren, dass jeder seine Art, so wie er ist, wie er musikalisch reagiert, wie er sich musikalisch ausdrückt, einbringen kann. Einen Raum zu schaffen, in dem dann letztendlich alle auf der gleichen Stufe sind. Wo Austausch möglich wird von Mensch zu Mensch. Die einen mit 120 Intelligenz-Quotient, die andern mit 70; der schaut so und so aus und der so und so - nach meinem Menschenbild haben alle einen inneren Kern, der einfach gleich ist. Wo die Seele sitzt – oder wie immer man das formulieren will. Und da eine Brücke von diesem inneren Kern, von Kern zu Kern zu bauen. Das ist der Gedanke.“
Die erste gemeinsame Probe mit den Mädchen und Jungen der Cabrini-Schule und dem OJO fand am 1. Mai im Konzertsaal der Bayerischen Musikakademie Schloss Alteglofsheim statt, dem regelmäßigen Treffpunkt des Orchesters. Schon in der Phase des gegenseitigen Vorstellens hat Hermann Seitz verstanden eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich zeigte, dass es sich bei Klangbrücken dieser Art um keine Einbahnstraßen handeln würde. Immer abwechselnd stellten die Mitglieder der beiden Gruppen ihre Instrumente vor: Nach dem Kontrabass, der von seiner Begegnung mit ’tri chinisin’ berichtete und die Lust zu spontanem Mitsingen erweckte, ertönten zart die Veenharfen. Aufs Fagott folgte der langsam versiegende Klang einer Klangschale, aufs goldschimmernde Blechblasinstument das geheimnisvolle Rascheln von Kies. Alle Klänge lösten heftigen Beifall aus und gaben den Auftakt für konzentrierte Phasen der Arbeit an einem Stück, mit viel Spielraum für wechselseitige Aufmerksamkeit und das beglückende Erlebnis des gemeinsamen Erkundens musikalischer Bögen.
Auch die kompositorische Strategie des Stückes von Niklaus Brass ist ausgerichtet am Fundus der Ansätze einer Pädagogik der Inklusion. Den Kern seines Stückes bildet ein textlich am Sonnengesang des Heiligen Franziskus orientiertes einfaches Lied, das mit der unmittelbaren Lebenswirklichkeit der Kinder zu tun hat: ein Schöpfungsliedchen, dessen melodisches Material in der ganzen Komposition immer wieder auftaucht. Die instrumentalen Aktionen der behinderten Kinder sind dialogisch locker vernetzt mit dem Orchesterklang: gegenseitiges Wahrnehmen greift Platz, noch das geringste Geräusch wird wertgeschätzt. Wie klingt dort, ganz weit hinten die Pauke, wie vorne das Tam-Tam? Und: wer spielt da, ist da? Impulse finden ihre Antwort, ihr Nachhall wird überführt in ausdifferenziertere Satzstrukturen.
„Ich glaube“ – so Nikolaus Brass – „dass es gesellschaftlich nach wie vor das herrschende Verhalten ist, zu separieren, auszuschließen – obwohl es auch ein Umdenken gibt, das sehe ich schon. Aber die Strukturen sind nach wie vor exklusive. Man will homogene Gruppen bilden und mit denen vorankommen. Für eine gedeihliche gesellschaftliche Zukunft könnte das Prinzip der Inklusion viel bewirken. Unser Beispiel ist hier ein kleines, das aber, denke ich, viele modellhafte Züge tragen kann.“
Wesentliche Ziele der Arbeit an diesem Projekt sind erkennbar bereits in den Proben geglückt – und auch in den musikalischen Konzertdarbietungen wird nichts wirklich schief gehen können. Es musizieren halt Menschen miteinander, die verschiedene Lebens- und Lerngeschwindigkeit haben. Hermann Seitz lässt alle gleichermaßen spüren „ich nehm’ dich wahr, ich nehm’ dich ernst, ich nehm’ dich für voll. Und wie schnell du schaust, das darfst du selber entscheiden. Wir nehmen uns ein Ziel vor, und schauen dass wir drauf hin kommen, und ich führ dich wenn’s notwendig ist, und… komm, geh mit.“
Das ‚Lied der Schöpfung’ ist integriert in ein Programm, dessen Stücke je auf ihre Weise alle Teil haben am Aspekt des Brückenschlags. So werden ein Präludium aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier in der Orchesterfassung des Johann Joseph Abert erklingen, der 2. Satz aus der Dritten Sinfonie von Louise Farrence und ebenfalls der 2. Satz aus Anton Dvoraks Neunter – der ‚Aus der Neuen Welt.’ Das Konzert – mit der Uraufführung wird es erstmals stattfinden am Samstag, den 25. Juni, 19’30 Uhr in der Musikakademie Schloss Alteglofsheim – mündet schließlich in Musik der reinsten Menschenfreude, klingt aus mit Joseph Haydns Sinfonie Nr. 104.
(Weitere Aufführungen: So., 26. Juni, 16’00 Uhr: Klosterkirche Reichenbach am Regen; Sa., 17. September, ca. 19’30: Kirche Oberalteich und So., 18. September, Kirche Mariä Himmelfahrt, Deggendorf.)