Die Digitalisierung führt zu einem Bruch mit einer tausendjährigen Musikkultur, die auf dem Lesen und Schreiben von Noten beruhte. Wurde Kunstmusik bislang im Medium der Noten komponiert, so entwickeln sich heute – nicht nur in der Populär-, sondern auch in der Kunstmusik – die Samples zum neuen Medium der Komposition. Die im 20. Jahrhundert aufkommende Popmusik hatte diesen Bruch antizipiert, aber noch nicht vollzogen. Erst wenn die Digitalisierung auch die am stärksten in der Notenschrift verankerte Musik erfasst hat, kann man davon sprechen, dass die Epoche der literalen Musikkultur zu Ende geht.
Eine solche bis in die letzten Winkel der Kunstmusik reichende Transformation zeichnet sich heute in der Neuen Musik ab. Ausschlaggebend ist hier die Entwicklung von virtuellen Orchestern mit ihren Instrumental- und Vokalsamplesammlungen wie der Vienna Symphonic Library, EastWest oder Spitfire, die es nicht nur möglich machen, jede beliebige Partitur am Computer mit Hilfe von Instrumentalsamples einzuspielen, sondern mit denen sich darüber hinaus auch komponieren lässt. Damit entsteht für die Kunstmusik ein neues Medium der Komposition.1 Im folgenden Essay möchte ich solche Samplekompositionen vorstellen, die in den letzten fünf Jahren entstanden sind und für diesen Kulturwandel stehen.
Thomas Hummel
Die virtuellen Orchester sind eigentlich dafür geschaffen worden, zeitgenössische klassische Musik einzuspielen, wie dies bei der Filmmusik inzwischen die Regel ist. Insofern in der Neuen Musik auch erweiterte Spieltechniken zum Einsatz kommen, lässt sich ein Großteil der charakteristischen Klangeffekte der Neuen Musik mit diesen Instrumentalsamplesammlungen nicht realisieren. Der Komponist Thomas Hummel hat diese Schwäche der marktgängigen virtuellen Orchester früh erkannt und mit conTimbre ein virtuelles Orchester geschaffen, in dem auch die unorthodoxen erweiterten Spieltechniken der akustischen Orchesterinstrumente gesampelt wurden. Inzwischen hat Hummel mehrere Stücke für conTimbre geschrieben, wie etwa „Sinaida Kowalenko“ (2014) für 6 Instrumente und ePlayer-Orchester. Das Stück wurde zunächst ganz traditionell mit Stift und Notenpapier komponiert, die Orchesterpartitur wurde aber anschließend in Max/MSP-Befehle transferiert, die (viel präziser als MIDI) die entsprechenden conTimbre-Samples triggern. Hummel hat den Begriff des ePlayers im Titel übernommen, um kenntlich zu machen, dass es sich hier nicht nur um eine Einspielung einer Partitur mit einem virtuellen Orchester handelt.2 Die ePlayer können viel mehr als Orchestermusiker – sie können unspielbare Passagen spielen, sie beherrschen alle nur denkbaren hybriden Instrumente, und mit ihnen lassen sich auch Stücke für beliebig viele Instrumentalisten realisieren. So kamen zum Beispiel in „Sinaida Kowalenko“ 30 ePlayer-Basstrompeten mit Fagottmundstück zum Einsatz, was eine vollkommen unrealistische Instrumentierung ist.
Obwohl es sich hier um einen unerhörten Klang handelt, versucht Hummel gerade nicht, das Paradigma der Materialästhetik fortzuschreiben, sondern es handelt sich hier bereits um ein gehaltsästhetisches Stück, das eine Geschichte erzählt.3 Sinaida Kowalenko war eine alte Bäuerin, die sich nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl geweigert hatte, ihr radioaktiv verstrahltes Dorf zu verlassen und dort allein zurückgeblieben war. Während des Stücks werden Tonbandaufnahmen mit ihr eingespielt, wodurch die Geschichte vom Leben und Sterben dieser alten Frau mit der Geschichte vom Leben und Sterben der Stadt verknüpft wird.
Eigentlich erlebt man nur ein kleines Ensemblestück mit sechs Musikern, und dennoch vermag Hummel mit seinem ePlayer-Orchester so atmosphärisch verdichtete Klangflächen zu generieren wie einst Penderecki in seiner „Threnody to the Victims of Hiroshima“ (1960), der hierfür noch 52 Streicher benötigt hatte. Der ePlayer führt, mit anderen Worten, zu einer Demokratisierung des Orchesterklangs, insofern die Einspielung mit Sinfonieorchestern äußerst kostspielig ist und immer nur einigen wenigen Komponisten vorbehalten blieb. Mit ePlayer-Orchestern kann im Prinzip jeder und jede ein Orchesterstück komponieren und mit einigen wenigen Musikern auch zur Aufführung bringen.
Steven Kazuo Takasugi
Steven Kazuo Takasugis „Sideshow“ (2009–15) ist ein elektronisch verstärktes Oktett mit elektronischen Einspielungen. Das Stück wurde 2016 bei den Darmstädter Ferienkursen aufgeführt und ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die ePlayer-Technologie langsam von der Neuen Musik-Szene absorbiert wird. Das Besondere an „Sideshow“ ist, dass dieses Werk primär mit Instrumentalsamples komponiert wurde, die Takasugi über Jahre hinweg in akribischer Handarbeit in seinem „Kellerlaboratorium“ aufgenommen hat. Ursprünglich hatte der Komponist damit die Intention verfolgt, sich auf diese Weise sein eigenes ästhetisches Material herzustellen. Die personalisierte Samplesammlung sollte einen Personalstil ermöglichen, der sich nach dem Ende des Materialfortschritts mit akustischen Instrumenten schon nicht mehr kreieren ließ. In diesem Sinne wollte Takasugi in den Nuller-Jahren auch ein neues Genre begründen und mit seinen Instrumentalsamples „Kopfhörermusik“ komponieren, wofür „Die Klavierübung“ (2007–2009) ein gutes Beispiel ist. Inzwischen sieht man, dass solche Samplekompositionen im Windschatten der digitalen Revolution ein Eigenleben entwickeln und die Bühne zu erobern beginnen. Der Witz an dieser Klavierübung ist, dass sie unspielbar ist und „Üben“ in diesem Fall überhaupt nichts bringt. Nichtsdestotrotz hat der Pianist Mark Knoop das Werk 2014 zum ersten Mal live aufgeführt. Takasugi hat zu diesem Zweck aus der ursprünglichen Samplekomposition eine Klavierstimme extrahiert, die dann synchron mit der Samplekomposition aus dem Lautsprecher vom Pianisten gespielt werden kann.
Nach demselben Prinzip – dass die Komposition im Medium der Samples primär und das aus ihr gewonnene Notenmaterial für die Live-Performance sekundär ist – wurde auch „Sideshow“ komponiert. Die basale Struktur dieses Ensemblestücks wurde in einem Editierprozess von Samples generiert und anschließend orchestriert. Das kann heißen, dass zusätzliche Sampleschichten zu dieser Grundstruktur hinzugefügt werden, aber es kann sich auch um ein Orchestrieren im klassischen Sinne handeln. In diesem Fall transferiert Takasugi die Audiosignale der bisherigen Komposition mit Hilfe von Algorithmen zurück in MIDI-Daten, die sich dann in einem Notationsprogramm darstellen und bearbeiten lassen. Doch auch diese Orchestrierung der Sideshow im Medium der Noten ist oft nur ein Zwischenschritt, wenn das orchestrierte Stück nun erneut im Medium der Samples editiert wird, solange, bis das Stück seine endgültige Klanggestalt angenommen hat.
Die Stimmen für die Instrumentalisten des Oktetts wurden zum Teil aus dem Orchestrierungsprozess gewonnen und zum Teil per Hand notiert. In beiden Fällen handelt es sich um einen invertierten Kompositionsprozess. Der Komponist versucht im Prinzip aus der fertigen Samplekomposition die einzelnen Stimmen für eine Live-Performance ‚herauszuhören‘. Insofern sind die Stimmen für die akustischen Instrumente eigentlich eine Adaption der Samplekomposition für eine Live-Performance, so wie auch die Partitur für die Klavierübung eine nachträgliche Interpretation von Kopfhörermusik war.
Obwohl „Sideshow“ ein technisch wie ästhetisch äußerst avanciertes Stück ist und damit einen Weg aus der literalen in die digitale Kunstmusik weist, so ist es dennoch kein Beispiel für absolute Musik im Medium der Samples. Zum einen arbeitet Takasugi mit einem Subtext, der aus sechs Aphorismen von Karl Kraus besteht und zum Konzept des Stückes gehört. Zum anderen besitzt „Sideshow“ eine mimisch-gestische Dimension. Nicht zuletzt wegen der ePlayer werden die acht Musiker und Musikerinnen soweit entlastet, dass sie im Stück ein durchchoreografiertes groteskes Minenspiel aufführen können. Die ePlayer-Technologie erleichtert, mit anderen Worten, den Übergang der Kunstmusik von der bislang vorherrschenden Idee der absoluten Musik zur Idee der relationalen Musik.
Stefan Hetzel
Ein weiteres Beispiel für eine Instrumentalsample-Komposition ist Stefan Hetzels „Zwangsgedanke“ für ePlayer-Piano (2016). Zwangsgedanken sind unfreiwillige, immer wiederkehrende Gedanken, die von Menschen als schmerzhaft und quälend erfahren werden, weil sie sich diesen Vorstellungen nicht entziehen können und sich ihnen ausgeliefert fühlen. Bei dem Stück handelt es sich also um die Sonifizierung eines krankhaften psychischen Bewusstseinszustands, bei dem eine Klanggestalt, die aus einer dichten Wolke von Klaviersamples besteht, in eine Endlosschleife gerät. Die musikalische Grundfigur wurde mit einem Loop-Algorithmus generiert, die hierbei erzeugten MIDI-Daten anschließend mit Klaviersamples verknüpft und am Computer manipuliert. Die kompositorischen Entscheidungen wurden also letztendlich nach dem Gehör getroffen.
Es sind vor allem zwei Momente, in denen sich das Zwanghafte manifestiert. Zum einen handelt es sich um eine sehr komplexe Klanggestalt mit einer Unzahl von Binnenereignissen, die so undurchhörbar bleiben wie Zwangsgedanken undurchschaubar sind. Zum anderen gibt es bei jeder Wiederholung geringfügige Variationen und Transformationen, was den Eindruck erzeugt, dass die immer gleiche musikalische Gestalt in einer jeweils anderen Konkretion erscheint. Es kann sich also keine feste Erwartung in Bezug auf diese Klanggestalt ausbilden, so wie das Subjekt einen Zwangsgedanken abstrakt erwarten kann, aber von ihm immer wieder konkret und aufs Neue ergriffen wird.
Das Stück ist eine typische ePlayer-Komposition, bei welcher die Wiedergabe über Lautsprecher primär und jede mögliche Live-Aufführung ein sekundäres Arrangement ist und ein Derivat bleibt. Im vorliegenden Fall wäre diese besonders schwierig, weil „Zwangsgedanke“ mit der Samplesammlung „Surprise Piano“ eingespielt wurde, wo die verwendeten Klaviersamples nach einem Zufallsprinzip aus fünf verschiedenen Klaviersamplesammlungen ausgewählt werden. Die damit produzierten Einspielungen klingen dementsprechend immer schon unsauber und schief, was aber perfekt zur Idee von Hetzels Stück passt. Eine Live-Version dieses Stücks bräuchte fünf Selbstspielklaviere oder fünf Pianisten, was nicht nur unrealistisch ist, sondern auch dem Genre des Stücks nicht gerecht würde. Eigentlich handelt es sich bei Zwangsgedanke um Konzeptmusik, deren wesentliches Merkmal ein Isomorphismus zwischen Idee und Wahrnehmung ist: Es ist genau eine Idee, die in genau einem Werk sinnlich erfahrbar wird, und der sinnliche Wahrnehmungseindruck wird mit Hilfe eines Konzepts (das in diesem Fall der Titel ist) auf genau diese eine Idee fokussiert. Konzeptmusik zielt auf perfekte Realisierung, nicht auf variantenreiche Interpretation.
Gunnar Geisse
Bei Gunnar Geisses „The Wannsee Recordings“ (2018) handelt es sich um zwei CDs mit Improvisationsstücken, die technologisch so innovativ sind, dass sie sich mit herkömmlichen Gattungsbezeichnungen nicht benennen lassen. Zwar wurden die Stücke mit einer Elektrogitarre eingespielt, aber es wäre vollkommen irreführend, sie als E-Gitarren-Improvisationen zu bezeichnen. Das erste Stück „Ouvertüre“ setzt zum Beispiel mit einem satten Orchesterklang ein, aber bei den Blechbläsern, dem Schlagzeug, der Celesta und der Pauke, die zu hören sind, handelt es sich um virtuelle Instrumente, die von der E-Gitarre getriggert und gespielt werden. Selbst die E-Gitarre ist in diesem Stück ein virtuelles Instrument! Bei Live-Aufführungen sieht man Geisse mit einer E-Gitarre und einem Notebook auf der Bühne, mit deren Hilfe er musikalische Abläufe generiert und auf die Musik, die dabei entsteht, spontan reagiert – entweder indem er eine korrespondierende Passage auf der Gitarre spielt oder indem er die Parameter am Computer erneut verändert.
Eigentlich handelt es sich bei diesen Improvisationen um ePlayer-Improvisationen: Der Live-Player improvisiert mit ePlayern, die ihr Eigenleben haben. Neben den Instrumentalsamples, zu denen auch selbsteingespielte Gitarrensamples gehören, können auch Samples von Stimmen und Chören oder beliebige Audiosamples verwendet werden. Das Besondere an diesen Aufnahmen ist, dass alle virtuellen Instrumente in Echtzeit gespielt werden; es sind also keine Tonspuren nachträglich hinzugefügt worden. Dabei kommt es auf offener Bühne zu einer vollkommenen Deontologisierung der Musikinstrumente, insofern der Klang, den man hört, nicht mehr mit dem Musikinstrument, das man sieht, verknüpft werden kann, was übrigens auch ein wesentliches Merkmal einer digitalen Musikkultur ist.
Geisses Improvisationen gehören sicherlich zu den technologisch avanciertesten Musikprojekten, die es zur Zeit gibt. Es sind, sehr vereinfacht gesagt, drei Prozesse, die während einer Improvisation parallel ablaufen. Erstens werden die Audiosignale von der E-Gitarre digitalisiert, zweitens werden diese digitalen Signale über eine Spektralanalyse in MIDI-Daten übersetzt, und drittens treffen diese MIDI-Daten auf etwa 100 präparierte Tonspuren mit unterschiedlichen virtuellen Instrumenten, die sich mit der E-Gitarre bespielen und den Controllern manipulieren lassen. Je nachdem, welche musikalischen Abläufe sich hieraus ergeben und zu hören sind, kann Geisse mit Hilfe eines Joysticks, per Fader, Endlosdrehregler oder Tastendruck assoziativ zwischen diesen Spuren und den möglichen Transformationen der MIDI-Daten hin und her springen oder mit der E-Gitarre darauf reagieren. Die Komplexität und Variabilität dieses Setups ist inzwischen so groß – und sie wächst beständig mit der Leistungsfähigkeit der Computer –, dass tatsächlich ein artifizieller Improvisationsraum entstanden ist, bei dem der Musiker nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst zu überraschen vermag.
Gunnar Geisses ePlayer-Improvisationen stehen nicht nur sinnbildlich für die enormen Freiheitsgewinne, die sich für Musiker und Komponisten mit der digitalen Revolution der Musik ergeben, sondern sie haben auch eine tragische Note. Geisse konnte nach einem Sportunfall, bei dem er zwei Finger verlor, seine Karriere als Solo-Gitarrist nicht fortsetzen und hatte sich deswegen seine eigene virtuelle Band geschaffen, die mit ihm improvisiert. In dieser Band ist er der Solist, der auf allen Instrumenten zugleich spielen kann.
Trond Reinholdtsen
„Die München ›Ø‹ Trilogie“ von Trond Reinholdtsen ist eine Oper, die ohne Sänger und Instrumentalisten aufgeführt wird. Zwar spielen die drei Protagonisten mit ihren riesigen Bauschaumköpfen auch Instrumente, aber die Gitarre ist ein Besenstil, der mit Drähten bespannt ist, das Klavier ist ein Holzbrett, auf das schwarze und weiße Papiertasten aufgeklebt sind, und als Schlagzeug dient eine Klobürste, mit der der Takt geschlagen wird. Im Prinzip handelt es sich bei dieser Oper um eine ePlayer-Komposition, die vollständig mit virtuellen Instrumenten eingespielt wurde und bei welcher der Komponist auch keine Rücksicht darauf genommen hat, ob sie sich mit akustischen Instrumenten spielen lässt.
Die Musik ist also von vornherein nur für ePlayer gedacht, die sich in einem ausschweifenden Stilpluralismus austoben dürfen, der vom Lied, der klassisch-romantischen Sinfonie, der barocken Kantate, serialistischer, mikrotonaler oder stochastischer Neuer Musik, bis zum Diskosound, Jazzrock und Techno reicht. Zum Teil hat Reinholdtsen nach Gehör komponiert und die Instrumentalstimmen über ein MIDI-Keyboard eingegeben, zum Teil sind die Stücke algorithmisch generiert, und zum Teil werden zuerst traditionell Partituren geschrieben, die dann mit virtuellen Instrumenten eingespielt werden. Diese Partituren bleiben aber Kompositionsskizzen, die weder veröffentlicht werden noch aufgrund unspielbarer Passagen (wie rhythmischer Proportionen von 21:22) aufgeführt werden könnten. Ganz gleich wie dieser erste Kompositionsschritt ausfällt, ob die Musik am Instrument mit Hilfe von Algorithmen oder in der Notenschrift komponiert wurde, eigentlich wird damit nur das musikalische Material generiert, das später am Computer nach Gehör editiert wird, bis daraus das fertige Musikstück entsteht. Die letzten kompositorischen Entscheidungen werden also nicht mehr im Medium der Noten, sondern im Medium der Samples getroffen.
Einige Episoden der Oper werden dem Publikum wie im Kino als Film gezeigt, andere Episoden werden live von Schauspielern aufgeführt, die ihre Lieder nicht singen, sondern die Sänger mit großen Gesten imitieren. Die Musik wird hier ausschließlich über Lautsprecher eingespielt. Genau genommen hört man bei den unterschiedlichen Gesangsstimmen, aber auch bei den mehrstimmigen Liedern, Rezitativen und Chorpartien immer nur eine einzige Stimme, nämlich die von Reinholdtsen selbst. Der Komponist hat nicht nur alle Instrumentalstimmen eingespielt, sondern auch alle Gesangsstimmen selbst eingesungen, was man jedoch nicht merkt, insofern auch diese Aufnahmen nur das musikalische Samplematerial für den eigentlichen Kompositionsprozess waren. Die Stimmen werden am Computer verzerrt und verfremdet, sie sprechen und singen in grotesken Geschwindigkeiten und werden so in extrem hohe und tiefe Stimmlagen transferiert.
Digitale Musikkultur
Aufgrund der besonderen akustischen Qualität der klassischen Instrumente, die in einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Instrumentenbaugeschichte für das menschliche Ohr perfektioniert wurden, dürfte die Kunstmusik auch in einer samplebasierten Musikkultur nicht auf diese Instrumente verzichten. Letztendlich fällt den Musikern unter dem Paradigma von relationaler Musik und Gehaltsästhetik auch nicht nur die traditionelle Rolle zu, geschriebene Musik hörbar zu machen, sondern sie sind jetzt auch als Performer, Sprecher oder Schauspieler gefordert, wie dies etwa im Minenspiel von Takasugis „Sideshow“ zu sehen ist. Der Einsatz von Musikern kann sich in einer digitalen Musikkultur auf Solostimmen beschränken, wenn sich der Orchesterklang wie bei Hummel auch mit einem ePlayer-Orchester realisieren lässt. Für Reinholdtsens Oper mit ihrer Ästhetik des Hässlichen und Schäbigen sind die ePlayer ohnehin die bessere Wahl.
Wie an den fünf Beispielen zu sehen war, überformt heute das Medium der Samples auch die am stärksten in der Notenschrift verankerte Kunstmusik und löst damit auch hier das Medium der Noten als primäres Medium der Produktion, Distribution und Rezeption von Musik ab. Erst jetzt kann man davon sprechen, dass die literale Musikkultur von einer digitalen Musikkultur abgelöst, oder, besser gesagt, in ihren drei Bedeutungsdimensionen aufgehoben wird – so wie einst die literale Musikkultur, die sich mit Guido von Arezzos Erfindung der vierlinigen Notenschrift im Terzabstand und mit Notenschlüssel im 11. Jahrhundert zu entwickeln begann, die bis dato vorherrschende orale Musikkultur aufgehoben hatte.5 Die meiste Kunstmusik, die in der Tradition der Neuen Musik komponiert wird, wird in Zukunft – das heißt.in einer digitalen Musikkultur – nach Gehör am Computer komponiert werden. Der sich vollziehende Umbruch wird vollkommen evident, wenn Komponisten demnächst im großen Stil mit KI-Programmen zu komponieren beginnen. Wenn die Vermutung zutrifft, dass die Kunstmusik auch in Zukunft an den akustischen Instrumenten festhält, so wird auch das Notenlesen und das Komponieren in der Notenschrift in der Kunstmusik nicht einfach eliminiert, sondern in das samplebasierte Komponieren eingebettet bleiben.
In der Kunstmusik zeichnen sich heute zwei Modi der Innovation ab: Zum einen lassen sich Stücke komponieren, die in technologischer Hinsicht innovativ sind. Dazu gehören ePlayer-Kompositionen und in absehbarer Zukunft auch die Arbeit mit KI-Systemen, die man für sich komponieren lassen kann. Man kann auf diese Weise auch ganz wunderbare und überraschende ästhetische Effekte erzielen, doch lässt sich auch mit solchen Stücken die Geschichte des Materialfortschritts nicht einfach fortschreiben. Der mit der digitalen Technologie des 21. Jahrhunderts generierte neue Klang entgrenzt oder sprengt nicht länger den Begriff der Kunstmusik, wie dies im 20. Jahrhundert Schönberg, Cage oder Lachenmann mit der Erfindung neuer Kompositions- und Spieltechniken für die akustischen Instrumente vermocht haben. Deshalb setzten die hier vorgestellten Stücke bereits auf einen zweiten Innovationsmodus und artikulieren über eine zusätzliche Ebene von Texten, Filmeinspielungen und Konzepten einen neuen ästhetischen Gehalt.
1) Vgl. das Kapitel „Samples” in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012, S. 51–62.
2) Zum Begriff des „ePlayers“ vgl. das gleichnamige Kapitel in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott Music 2012, S. 22–28.
3) Der Paradigmenwechsel von der Materialästhetik zur Gehaltsästhetik hat sich im 20. Jahrhundert in allen Künsten vollzogen. Vgl. hierzu Harry Lehmann: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016, S. 140–237.
4) Harry Lehmann: Die DeDekonstruktivisten (unveröffentlicht).
5) Vgl. das Kapitel „Notation” in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012, S. 42–51.