Banner Full-Size

Konsequent von der Gegenwart her definiert

Untertitel
Visionen einer neuen Musikwissenschaft · Rede des Siemens-Preisträgers Reinhold Brinkmann
Publikationsdatum
Body

Man mag es mögen oder nicht – das Jahr 2001 ist das Jahr der Musikwissenschaft. Nicht nur geht der Ernst von Siemens Musikpreis 2001 an einen Musikwissenschaftler; den Leibniz-Preis 2001 erhält mit Ulrich Konrad von der Universität Würzburg ebenfalls ein Historiker der Musik. Beide Preisträger, das weiß ich zufällig, sehen sich ausgezeichnet auch als Vertreter ihrer Zunft. […]

Was tut ein Musikwissenschaftler? Am Beginn eines langen Interviews hat mich kürzlich ein lieber, guter, höchst geschätzter Freund, ein Komponist, der in seinen jüngeren Jahren selber musikwissenschaftliche Seminare frequentiert hat, nach dieser seltenen Species gefragt. Hier ist seine keineswegs unschuldige Frage im Wortlaut:

Man mag es mögen oder nicht – das Jahr 2001 ist das Jahr der Musikwissenschaft. Nicht nur geht der Ernst von Siemens Musikpreis 2001 an einen Musikwissenschaftler; den Leibniz-Preis 2001 erhält mit Ulrich Konrad von der Universität Würzburg ebenfalls ein Historiker der Musik. Beide Preisträger, das weiß ich zufällig, sehen sich ausgezeichnet auch als Vertreter ihrer Zunft. […] Was tut ein Musikwissenschaftler? Am Beginn eines langen Interviews hat mich kürzlich ein lieber, guter, höchst geschätzter Freund, ein Komponist, der in seinen jüngeren Jahren selber musikwissenschaftliche Seminare frequentiert hat, nach dieser seltenen Species gefragt. Hier ist seine keineswegs unschuldige Frage im Wortlaut: Allgemein wird ja wohl ein Bild davon bestehen, was ein Musiker macht. Aber was macht ein Musikwissenschaftler? Also, der Komponist komponiert, der Pianist spielt Klavier – was macht ein Musikwissenschaftler?“

Die souveräne Selbstverständlichkeit, mit der hier dem Musikwissenschaftler bescheinigt wird, er sei kein Musiker, ist schon bemerkenswert. Da kann es auch nicht helfen, wenn ich darauf hinweise, dass ich an meiner Universität nicht Professor of Musicology bin, sondern Professor of Music – eine Berufsbezeichnung, die mir wohl gefällt. Aber das schafft die bohrende Frage nicht aus der Welt „Der Pianist spielt Klavier – was macht der Musikwissenschaftler?“

Vielleicht tut er dies: (geht ans Klavier und spielt, ohne Pause: Chopin, Prélude h-Moll op. 28,6 [1839] und Schönberg, Kleines Klavierstück op. 19,2 [1911])

Auch ein Musikwissenschaftler spielt also ein Instrument. Er ist, ich wage das vorzuschlagen, zuallererst Musiker. Und dieses Musikertum sollte, vom gleichsam taktilen Umgang mit der Musik ausgehend, seine gesamte Arbeit durchtönen. Denn es ist der klingende Gegenstand Musik, der den Musikhistoriker vom Allgemeinhistoriker unterscheidet.

Aber mein kleines Beispiel am Klavier wollte mehr zeigen. Musizieren, nach-denkende Einkehr halten bei der klingenden Musik, enthält beim Wissenschaftler eine zusätzliche Dimension. „Der Pianist spielt Klavier“, im Normalfall natürlich besser als der Wissenschaftler, dieser aber spielt im Hinblick auf eine Fragestellung. Mein unvorhergesehener Ausflug ans Klavier erlaubte sich das Sakrileg, zwei kurze Stücke, zwei Miniaturen aus zwei verschiedenen Jahrhunderten zu kombinieren, und diese Konfrontation fragte nach deren Beziehungen.

Eine kompetente Darstellung dieses Vergleichs wäre das, was Arnold Schönberg als Zielvorstellung für eine recht verstandene Musikwissenschaft nannte, nämlich (mit dem aktiven Akkusativ): „Forschungen in die Tiefen der musikalischen Sprache“. Und genau für dieses stritt meine Generation in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren, dies als leitendes Prinzip zu etablieren: den Kunstcharakter des einzelnen Werks, seine Individualität, aus dem Durchgang durch die Kompositionstechnik zu erhellen – das sahen jene damals enthusiastischen jungen Wissenschaftler, die der herrschenden geistesgeschichtlichen Methode überdrüssig waren, als ihre geschichtliche Aufgabe. Sie wollten eine nach der Nazi-Herrschaft und nach dem Zweiten Weltkrieg neue, von den politisch-ideologischen Verfehlungen der Vätergeneration unberührte Methodologie aufbauen. In deren Zentrum stand die Erkenntnis des Kunstwerks, der Schlüssel dazu lag in einer eindringenden musikalischen Analyse. Analyse aber bedeutete Strukturanalyse, nicht von vornherein und für jeden war es ästhetische Interpretation. Und einher mit dieser Orientierung auf das Werk ging eine Nobilitierung der musikalischen Avantgarde als eines legitimen Objekts musikwissenschaftlicher Arbeit. Es gelang damals, beides durchzusetzen.

„Research into the profundities of musical language“ – heute ist dieses Paradigma als solches bereits wieder vergangen, abgelöst von einem neuen. Meine klingende Konfrontation von Chopin und Schönberg enthält auch den Ansatz für diesen anderen Zugang. Er zeigt sich im sozialen Ort dieser Musik. Musikalische Lyrik hatte im 19. Jahrhundert primär eine beschränkte, private Öffentlichkeit. Der soziale Ort für Chopins Musik war der Salon, seine Hörerschaft war großbürgerlich, überwiegend weiblich – eine Betonung des Femininen, die in der Rezeption der Musik dann auf diese selbst übertragen wurde. Es ist faszinierend zu sehen, wie die sozialen Kriterien umschlagen in ästhetisch-ideologische, wie Chopins Musik in der zeitgenössischen Presse als „weich“ charakterisiert wird, bestimmte Gattungen, etwa das Nocturne, als weibliche Musik gelten (Jeffrey Kallberg hat darüber geschrieben), der Autor Chopin selber als „Salonkomponist“. Das eröffnet ein weites Feld musikwissenschaftlicher Forschungs-Ansätze: Sozialgeschichte, Institutionenforschung, Rezeptionsästhetik, Ideologiekritik, Mentalitätsforschung, „gender studies“..., in den USA würde man heute insgesamt sagen „cultural studies“. Hier treffen wir auf ein neues musikwissenschaftliches Paradigma, das nicht mehr zuerst auf das autonome Werk und dessen Kunstcharakter zielt, sondern auf den Kontext von Musik, und das die Werke erst von diesem Kontext her, von ihrer Einbindung in ihn sieht – als Exempla kultureller Verhältnisse sozusagen. […]

Während ich diese neue Kontext-Orientierung grundsätzlich als richtig und zukunftsweisend bejahe, will ich nicht verschweigen, dass ich – mit Walter Benjamin – sehr skeptisch bin gegenüber dem Universalismus des Kulturbegriffs. Nicht nur meint „culture“ im englischen Sprachbereich mehr als das deutsche „Kultur“, es umfasst auch das in unserem Verständnis pejorative „Zivilisation“ – der Kulturbegriff selber ist, worauf schon früh Andreas Huyssens hingewiesen hat, von einer Beliebigkeit, die wenig Vertrauen in seine Verbindlichkeit erweckt.

Die Schwierigkeiten der deutschen Musikwissenschaft mit dem Forschungsprofil „cultural studies“ aber gründen tiefer als in dem bloßen Wandel einer musikwissenschaftlichen Methode. Die Etablierung des neuen, kontext-orientierten Forschungsprogramms war in den USA selbst bereits ein Reflex einer fundamentalen Krise der bürgerlichen Musikkultur überhaupt. Und das internationale Fach Musikwissenschaft, das ist meine feste Überzeugung, wird einmal daran gemessen werden, wie es diese Krise thematisiert und in deren Entfaltung kritisch, diagnostisch, helfend, ändernd einzugreifen vermag. Dazu kann man getrost einige sehr persönliche Kriterien für eine Musikwissenschaft der nahen Zukunft zu benennen wagen. Vielleicht darf ich sogar ein wenig emphatisch werden…

  • Ich habe erstens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, deren Gegenstand: die westliche Kunstmusik und ihr Kontext vom Mittelalter bis heute, ein Gegenstand unter vielen anderen, grundsätzlich gleichberechtigten ist. Bildlich gesprochen: im großen Haus der Kulturen der Welt lebt die westliche Tradition in einer Wohnung neben anderen Musiken aus allen Erdteilen; ohne besondere Privilegien zu haben und ohne Modell zu sein. Das bedeutet das Ende jeglichen Eurozentrismus als eines ideologisierten Umgehens mit anderen Musikkulturen. (Bereits der Begriff „außereuropäische Musik“ hat einen kolonialistischen Klang.) Dies könnte institutionell ein Plädoyer für den Ausbau einer kompetenten Musikethnologie bedeuten.
  • Ich habe zweitens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, die ihre Methoden von der gesellschaftlichen Dimension der Musik, von deren Kontext her wählt und bestimmt.
  • Ich habe drittens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, die im gesetzten Rahmen des kontext-orientierten Profils für den Sonderbereich der europäisch-westlichen Musiktradition die Meriten des analytischen Zugangs zum musikalischen Werk nicht vergisst und diese einst beherrschende Methode jetzt funktional definiert und das heißt partial einsetzt. Innerhalb dieser Zentrierung sind Sicherstellung und Bearbeitung der Quellen der westlichen Musiktradition ein notwendiger Arbeitsbereich. Diese Philologie im engeren Sinn ist allerdings kein Selbstzweck.
  • Ich habe viertens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, die sich konsequent von der Gegenwart her definiert, die geschichtsphilosophisch die Gegenstände der Vergangenheit aus ihren Spannungen hin zur Gegenwart versteht; und die nicht nur ein völlig unbelastetes Verhältnis zum aktuellen Komponieren gewinnt, sondern diese jüngsten künstlerischen Aktivitäten als Teil der gegenwärtigen Musikszene zum Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens macht.
  • Ich habe fünftens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, deren Vertreter durch aktualisierte Themen eine verstärkte öffentliche Präsenz anstreben. Diese neue Generation sehe ich sich intensiv mit der gegenwärtigen Lage der klassischen bürgerlichen Musikkultur befassen: forschen, Stellung nehmen, eingreifen.
  • Und ich habe sechstens die Vision einer neuen Musikwissenschaft, die die Kommunikation mit einem Laienpublikum zu einem Kernpunkt von Reformen macht. Ich sehe Musikwissenschaftler bei Poeten in die Lehre gehen und eine verständliche und doch reich nuancierte Sprache sprechen und schreiben. Die Entwicklung dieser dem ästhetischen Gegenstand angemessenen und den Adressaten gleichwohl erreichenden hermeneutischen Sprache wird die Umwandlung der Musikwissenschaft in ein auch öffentlich relevantes Fach krönen.

Der erste Sektor eines bestimmenden Eingreifens könnte ein intensiveres und gezielteres Engagement der Musikwissenschaft mit der musikalischen Praxis sein, ein Engagement, das über die philologische Bereitstellung von soliden Ausgaben hinausgeht (das geschieht ja bereits in extenso). Vielmehr meine ich ein Intervenieren in Bereichen des aktuellen Konzertlebens, die heute wie versteinert scheinen.

Mein kleiner Ausflug ans Klavier gab ein sehr einfaches Beispiel. Die sukzessive Kombination musikalischer Miniaturen von Chopin und Schönberg dachte eine Praxis weiter, die Chopin selbst vorführte. Heutige Interpreten spielen Chopins 24 Préludes op. 28 ausschließlich als geschlossenes Opus, als in seiner Gänze unantastbares, autonomes Werk (Horowitz war wohl eine Ausnahme). Chopin selbst dachte ganz anders.

Für ihn waren Werke wie sein Opus 28 ein Reservoir. Und für seine Konzertprogramme kombinierte er einzelne Préludes mit einzelnen Etüden und Nocturnes, deren Ad-hoc-Auswahl und Zusammenstellung er dann „Suite“ nannte. Den Préludes mit ihren oft nicht schließenden Schlüssen gab er so ihre originäre Funktion, nämlich „Präludien“ zu sein, eine folgende Musik einzuleiten. Die 24 Préludes als festgefügtes Opus – das ist ein soziales Konstrukt, die selektive Kombination mit anderen Kleinformen dagegen gibt der einzelnen Miniatur Charakter und Funktion ihrer Erfindung zurück. Die Kombination zur Suite, deren Stücke aus mehreren Opera ausgewählt sind, bricht gleichzeitig mit der am Absolutheitsanspruch des autonomen Kunstwerks orientierten Ästhetik und öffnet das klassische Repertoire einem freien und befreienden Umgang. Es gibt eine Vielzahl solcher Praktiken, die von der Musikwissenschaft offensiv aufgegriffen und in die gegenwärtige Praxis verändernd eingeführt werden könnten. Ich brauche nur das riesige historische Feld „verloren gegangener Selbstverständlichkeiten“ für die Aufführung der Musik des 19. Jahrhunderts anzutippen, um die Dimension der Aufklärungsarbeit für die musikalische Praxis zu veranschaulichen. Neben solche kompositorisch-aufführungspraktischen Fragen könnte die heutige Konzertpraxis öffentlich zur Debatte gestellt werden.

Von weit größerer Relevanz aber wäre ein Eingreifen grundsätzlicher Art in die latente Krise des klassischen Musiklebens heute. Lehrveranstaltungen, Tagungen, Podiumsdiskussionen, Veröffentlichungen – als Buch wie als Zeitungsartikel – könnten diesem Themenkomplex gewidmet sein.

Es ist erstaunlich und kaum verantwortbar, dass das Fach Musikwissenschaft schweigt und auch im Stillen nicht handelt, während es selbst Teil einer weit reichenden Identitätskrise der klassischen Musikkultur ist. Musikforscher könnten Arbeitsgruppen einsetzen, die die Lage der Musik innerhalb der gegenwärtigen Kulturszene erforschen und Vorschläge ausarbeiten, wie den Gefährdungen dieses kulturellen Bereichs begegnet und sein Weiterleben befördert werden kann. Das wäre eine Facette einer sich als gegenwärtig verstehenden Wissenschaft.

Mein Engagement und mein Handlungsvorschlag beruhen auf der Überzeugung, dass der Bereich der klassischen Musik, vom Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart und unter Einschluss des Jazz, ein unerschöpftes Potenzial an Menschlichkeit, Selbstbestimmung, Toleranz und Glück bereitstellt, Modelle für ein humanes Zusammenleben, für die Lösung von Konflikten präsentiert, so dass es wert ist, sich mit allen Fasern seines Denkens und Fühlens für ein Weiterleben dieser Kultur einzusetzen. Wegen dieses Potenzials, zutiefst betroffen von seiner Geistigkeit und Vitalität, bin ich Musikwissenschaftler geworden.

Eine lebendige Zukunft dieser Kunst aber beruht auf der Existenz einer besonderen Species von ganz besonderen Individuen, die gehegt und gepflegt, die aber auch in die Verantwortung genommen werden sollten. Lassen Sie mich mein musikwissenschaftliches Räsonnement enden mit einem Plädoyer für die Komponisten unserer Gegenwart. Ohne stetige Erneuerung des klassischen Repertoires, ohne „Neue Musik“ in Permanenz ist unsere Musikkultur nicht lebensfähig, würde sie zum bloßen Museum. Sie braucht, wir brauchen diese Komponistinnen und Komponisten: Mundry, Sanchez-Verdú, Werner und viele andere, jünger und älter; und sie brauchen unser Verständnis; unser Vertrauen, unsere Förderung, unsere Kritik.

Dieg nmz druckt die Rede von Reinhold Brinkmann zur Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises in einer gekürzten Fassung. Die Originalrede finden Sie unter:

ernst-von-siemens-musikstiftung.de

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!