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Kräfte der Materie und Geheimnisse der Welt

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Zum Tod des griechischen Komponisten Iannis Xenakis
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Es gibt Komponisten, die die Musikgeschichte einfach braucht. In solchen Fällen scheint sie es zu sein, die einem historischen Weltgeist gehorchend Bedingungen installiert, in die das notwendige Neue integriert wird. Arnold Schön-berg soll einmal auf die Frage, ob er der bekannte Neutöner sei, gantwortetet haben: „Keiner hat es werden wollen und so habe ich es gemacht“. Bei dem griechischen Komponisten Iannis Xenakis, der am 29. Mai 1922 im rumänischen Braïla geboren wurde und der am 4. Februar 2001 in Paris starb, ist es auch so.

Es gibt Komponisten, die die Musikgeschichte einfach braucht. In solchen Fällen scheint sie es zu sein, die einem historischen Weltgeist gehorchend Bedingungen installiert, in die das notwendige Neue integriert wird. Arnold Schön-berg soll einmal auf die Frage, ob er der bekannte Neutöner sei, gantwortetet haben: „Keiner hat es werden wollen und so habe ich es gemacht“. Bei dem griechischen Komponisten Iannis Xenakis, der am 29. Mai 1922 im rumänischen Braïla geboren wurde und der am 4. Februar 2001 in Paris starb, ist es auch so.Xenakis nämlich hatte entscheiden müssen. Er arbeitete in den 50er-Jahren erfolgreich als Architekt, zu dem er am Polytechnischen Institut in Athen ausgebildet worden war. Er, der im zweiten Weltkrieg im Widerstand gegen den Faschismus gekämpft hatte, wo er sich eine schwere Kopfverletzung zuzog, hatte, in seiner Heimat zum Tode verurteilt, 1947 in Frankreich politisches Asyl erhalten. Bis 1960 war er Mitarbeiter bei Le Corbusier. Musik wurde nebenher betrieben, bei Hermann Scherchen in Gravesano oder auch bei Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium. „Ich habe die Musik ausgewählt“, erzählte Xenakis später, „weil ich wählen musste: entweder die Forschung oder Geschäftsmann werden. Es gibt zu wenig Forschung in der Architektur. Und ich habe mich in die Musik zurückgezogen: dort konnte ich, trotz aller Schwierigkeiten, künstlerische Forschung realisieren.“

Objekivismus

Eigenartig: Xenakis wählte die Musik, nicht weil er dort sein Ich in subjektiven Ausdrucksformen verwirklichen konnte, sondern weil sich dort künstlerische Forschung durchsetzen ließ. Und wirklich spielt das künstlerische Subjekt in Xenakis’ Arbeiten eine allenfalls verdeckte oder zurückgedrängte Rolle. Schon als am 16. Oktober 1955 in Donaueschingen sein Orchesterwerk „“ zum ersten Mal erklang und Xenakis kometenhaft aufzusteigen begann, mochte man das deutlich gespürt haben. Die musikalischen Denkansätze drehten sich damals in erster Linie um reihentechnische, serialistische Probleme, die die unverkennbar subjektiven Äußerungen hinter einem Gesetz versteckten und verklausulierten. Im Bruch steckten Formen der Entfremdung von Musik und Gesellschaft.
Xenakis machte da nicht mit. Dem Serialismus stand er immer skeptisch gegenüber, wohl weil er Beschränktheiten dieses Ansatzes von Anfang an erkannte. Die Zahlenspielereien mit den Reihen, mit den musikalischen Parametern mögen auf ihn kindlich blauäugig gegenüber den neuen mathematischen Erkenntnissen gewirkt haben. Denn mathematisch wissenschaftlich war auch sein Zugang zur Musik, doch auf entschieden fundamentalere Art. Er setzte stochastische Verfahren in Aktion, Erfahrungen mit Mengenlehre. Doch wurden sie ihm nie zum Selbstzweck, sie dienten der Berechnung von Klang, Dichte, Schalldruck, Körperlichkeit im Raum – ganz wie er es als Architekt und Statiker gelernt und ausgeübt hatte. Die Idee von Form oder die eines Prozesses steht als elementare im Zentrum, die Berechnungen prüfen dann Statik und Belastbarkeiten, Grenzsituationen, Stellen des Umschlags.

Elementares Staunen

Niemals freilich ist dies bei Xenakis blutleer oder abstrakt formalistisch. Denn das Elementare seiner Musik tritt in enigmatische Verbindung mit den Formeln, den Kräften, ja den Göttern, die unser Sein lenken. Mit der Neugier, mit der wir heute Bilder von Landschaften auf den Planeten, von Sonnenprotuberanzen, von entfernten Galaxien mit den Spuren explosiver Kraftentfaltung, mikroskopische Aufnahmen von Genanordnungen auf Chromosomen oder Satellitenfilme über die Entwicklung von Wetter mit ihren Wirbeln, ungestümen Aufbauen und unvermutetem Zusammenbrechen von Wolkenfeldern beobachten, ging er seinen klanglichen Prozessen nach. Hierin ist Xenakis modern in einer Art, von der andere Komponisten in den 50er-Jahren noch kaum eine Ahnung hatten. Alles liegt bei ihm offen zu Tage und das Zuhören wird zum Staunen über die innewohnenden Kräfte der Materie. Und so wie wir beim Ansehen oder Erleben elementarer Ereignisse hinter der Oberfläche die Rätsel und Geheimnisse der Welt und der Gesetze, die sie zusammen halten, unvermittelt spüren, so wirkt auch seine Musik auf uns.

Was immer bei Xenakis auffällt, ist eine unendlich sich hinwendende Nähe zum Gegenstand. „Die Musik ist für mich Philosophie“, sagte er einmal, „das ist die klangliche Projektion der Gesetze der Sterne, der Maschinen und der menschlichen Sensibilität. Für mich ist die Musik die klangliche Projektion des turbulenten und schwindelnden modernen Denkens. Das, was ich zu machen versuche, ist, die Harmonien und die Dissonanzen des modernen Lebens in einer wahrnehmbaren Form zu organisieren. Einmal haben die Hirten den Gesang der Vögel und der Insekten gehört, und es hat sie inspiriert.

Heute geht es um den gleichen Prozess, nur unter einer radikal verschiedenen Form.“ Hinhören auf die Turbulenzen des Seins wie auf kleinste, schüchterne Regungen des Individuums, Konzentration auf einen Aspekt, das ist es, was alle Werke von Xenakis so nachdrücklich faszinierend macht. Die Musik macht keine Biegungen, sie verstrickt sich nicht, alle Parameter dienen nur einer Sache: den Eindruck, die klangliche Erfahrung zu vertiefen, zu verstärken.

Vielfalt der Physiognomien

Der Reichtum der Musik ist dabei so groß wie der Reichtum der Welt selbst. Ein paar Schlaglichter: Im für Jerusalem geschriebenen Stück „N’Shima“ für zwei Mezzosoprane, 2 Hörner, 2 Posaunen und Violoncello (1975) etwa geht es um die Klangkonstellation von hebräischer Sprache und einem alten israelitischen, aus einem Bockshorn gefertigten Instrument. Es sind klangliche Desiderate, die die Aura einer Landschaft, einer kulturellen Einheit auf den Punkt bringen. Im für Persepolis geschriebenen Schlagzeugerstück „Persephassa“ (1969) entwerfen im Raum rotierende, sich in tumultulöse Geschwindigkeit steigernde, wie Wellen sich über den Hörer ergießende Schlagwirbel das Bild naturhaften, ungestümen Sprießens. Das Streichquartett „“ (1983) stellt wilde kommunikative Verschlingungen, das Ineinander herber Gesten der vier Protagonisten vor. Im Quartett „“ (1990) ist dieser Aspekt hin auf ein Ineinander fremder Skalen abgeändert. Die für die exorbitant virtuose Cembalistin Elisabeth Chojnacka geschriebenen Stücke „“ (1976) und „“ (1984) nehmen sich die harte Trennschärfe des Cembaloklangs mit seinen charakteristischen Akzentstrukturen sowie einen haptischen Spielgestus zur Ausgangsbasis. „“ für Klavier und Bläser (1963/64) lebt aus weiss-grellen Entladungen des Klangs, die wie Lichtblitze wirken, in „“ für 12 Gesangsstimmen (1967) hören wir das unterdrückte Zirpen und die Klagelaute nächtlicher Landschaften, das Orchesterwerk „“ (1987) hingegen wirkt wie eine Wand, die mit dem Hammer aus Stein geschlagen ist. Die szenische Komposition „“ nach Eschylos führt in weiter Wanderung rätselhaft durch Ebenen aus Zeit und Bewusstsein. Jedes Werk von Xenakis besitzt auf diese Weise eine ganz eigene Physiognomie, die so klar und dadurch so stark in ihrer Wirkung ist, dass eine unmittelbare Deckungsgleichheit zwischen dem Klang und dem Dargestellten entsteht. Hierin ist sein Werk unverwechselbar, radikal und einzig in der Landschaft der musikalischen Avantgarde.

Traditionslos radikal

Die Radikalität des elementaren Erlebens in der Musik von Xenakis erweist sich noch an einem anderen Punkt, der beim Werk von Xenakis stets ein Spannungsfeld von Nah und Fern erzeugt. Denn seine Musik verzichtet weitgehend auf die abendländische musikalische Tradition. Von Anbeginn an, vom Urerlebnis im Orchesterwerk „Metastasis“ stellen sich die Stücke außerhalb des geschichtlichen Stranges. Und dadurch entkam die Musik einengenden Zwängen. Der anvisierten Deckungsgleichheit mit dem Gegenstand stand kein formales oder satztechnisches Verdikt gegenüber. Das Schaffen wurde bei ihm zum unmittelbaren Akt. Das Werk von Xenakis ist direkter, ungeschützt harter Kontakt zur Welt. Unüberhörbar.

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