Zu Recht streitet man immer wieder über den Sinn und Zweck von Wettbewerben auf dem Gebiet der Musik. Im Falle des Deutschen Chorwettbewerbs (DCW) darf man solche Bedenken getrost beiseite schieben. Hier wird nicht über ein karriererelevantes Wohl und Wehe von Musikern entschieden. Dennoch ist die Freude der Laienchöre, denen es gelingt, mit Preisen wieder nach Hause zu fahren, riesig. Die Ensembles können sich nun als die Besten ihrer jeweiligen Kategorie bezeichnen, wobei vom solistisch besetzten Vokalensemble bis hin zum großbesetzten Männerchor die ganze Palette des chorischen Singens vertreten ist.
Wichtiger aber sind die enormen Impulse, mit denen der seit 1982 alle vier Jahre stattfindende Deutsche Chorwettbewerb das Chorleben hierzulande beflügelt hat. Zum DCW werden nur Chöre geschickt, die bereits bei den Landeswettbewerben als Sieger hervorgegangen sind. Allein dadurch ist ein hohes Niveau der hier antretenden Ensembles gesichert. Man kann also den DCW als ein Forum der Spitzenchöre in Deutschland bezeichnen, und genau hier setzt auch die Wirkkraft des Wettbewerbs ein. Die Chöre reisen nicht nur an, um ihre Programme zu singen. Jeder Chorleiter, jeder Sänger will wissen: Was machen die anderen? Wie überzeugend sind hier Chorklang, Intonation, Präsentation, Repertoire und Stilsicherheit? Kein Wunder, dass fast alle Wettbewerbskonzerte bestens besucht waren. Die Anregungen, die hier gesammelt werden, fließen später dann in die künstlerische Arbeit des eigenen Chores mit ein. So lässt sich etwa eine deutliche Leistungssteigerung in vielen Kategorien beobachten, die noch vor vier Jahren weniger gut aufgestellt waren. Beispielsweise agieren die klassischen kleinen und großen gemischten Chöre insgesamt souveräner als vor vier Jahren. Neben einer musikalischen Qualitätssteigerung in Bezug auf die eben genannten Kriterien faszinierte in diesem Jahr vor allem die Lebendigkeit der Präsentation. Viele Chöre sangen ihre Programme – oder zumindest Teile daraus – auswendig: Dass Sänger ihre Köpfe hinter Noten vergraben, war gestern. Daraus resultiert ein freies, offenes, spontanes und dem Publikum zugewandtes Singen. Belebend wirken auch kleinere choreographische Elemente. So war bei den diesjährigen Konzerten der chormusikalische Idealfall, dass jeder Sänger frei agiert und sich doch dem Ensemble und seinem Klang unterordnet, sehr häufig zu beobachten. Ganz offensichtlich haben hier die klassischen Chöre etwas von den extrovertierten Gesangs- und Präsentations-Techniken aufgenommen, die in der Kategorie „Populäre Chormusik“ mit ihren Pop- und Jazzchören längst selbstverständlich sind. Solche gegenseitigen Befruchtungen, im Sinne eines voneinander Lernens auch über das eigene Genre hinaus, ist für den Deutschen Chorwettbewerb symptomatisch.
Modern a cappella auf höchstem Niveau
Noch ein Wort zu den gemischten Chören: Für alle war es überraschend, dass diesmal insbesondere die teilnehmenden Hochschulchöre herausragend agierten. So konnte sowohl der Madrigalchor der Hochschule für Musik und Theater München als auch die Kammerchöre der Hochschulen für Musik aus Detmold und Weimar die ersten Plätze für sich belegen. Weil die ersten und zweiten Plätze aufgrund der überdurchschnittlichen Gesamtleistung jeweils zweimal vergeben wurden, holten sich auch die Stuttgarter Kantorei sowie Cantabile Regensburg Preise. Da Hochschulchöre schon immer beim DCW vertreten waren, nie aber sonderlich herausstachen, zeichnet sich nun offenbar eine neue Entwicklung ab, die man differenziert beurteilen muss. Chorsingen hat – dies ist die gute Nachricht – an den Musikhochschulen einen neuen Stellenwert bekommen: Galt bisher unter Musikstudierenden die Teilnahme am Hochschulchor eher als ein lästiges Pflichtfach, das man halbherzig absolvierte, so haben die Studierenden nun unglaubliche Lust, sich hier einzubringen und ihr Bestes zu geben. Da aber die zukünftigen Berufsmusiker zugleich eine große musikalische Kompetenz einbringen und mit ihren jungen Stimmen überzeugen, können die ambitionierten traditionellen Laienchöre – die sich ja trotzdem im semiprofessionellen Bereich bewegen! – nur schwerlich dagegen ansingen. Eine Modifikation der Kriterien, beispielsweise durch die Einführung einer weiteren Kategorie in diesem Bereich, wird nun diskutiert (siehe hierzu auch das Interview mit Jürgen Budday auf Seite 31).
Absolut herausragend agierten die Ensembles bei der „Populären Chormusik“. Nie zuvor war die Pop- und Jazzszene so gut aufgestellt. Man schöpft aus enormen Potentialen, genießt einen großen Zulauf und ist immer offen für Neues. Das machte sich auch in der Bewertung bemerkbar. Von den 14 Chören, die in der Sektion „Populäre Chormusik/a cappella“ sangen, waren 10 im „hervorragenden“ oder „sehr guten“ Bereich.
Stimmiges Gesamtkonzept
Den 1. Preis holte sich „Vivid Voices“. Der Chor unter Claudia Burghard ist an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover angesiedelt – auch hier gewann also ein Hochschulchor! Mit welcher Frische und Lebendigkeit die jungen Sängerinnen und Sänger hier agierten, dabei tolle choreographische Elemente einbrachten, vokale Experimente wagten und das Ganze in ein stimmiges Gesamtkonzept schweißten, ist auch im internationalen Vergleich Spitze. Wie erwartet war auch der Bonner Jazzchor hervorragend aufgestellt. Er zeigte eine vorzügliche Ensemble-Kultur, musizierte viele vokale Details absolut stimmig aus und gab zugleich tolle Show-Effekte. Von den vielen Ensembles sei hier noch „Greg is Back“ herausgestellt, die mit einem 2. Preis zurück nach Augsburg fahren durften, denn hier zeigt sich ebenfalls eine neue erfreuliche Tendenz. Unter den fünf Stücken präsentierte das Ensemble drei tolle Arrangements, die alle aus der Feder des Chorleiters Martin Seiler stammen. Der Aufbruch, der in der Szene herrscht, hat auch damit zu tun, dass die Chöre häufig nicht mehr eine mehr oder weniger gute Exportware von Arrangements aus den USA singen, sondern nun das Heft selbst in die Hand nehmen und mit eigenen Arrangements experimentieren wollen. Bereichernd schließlich waren auch die Songs der „JazzVocals“ aus Berlin, die mit großer Entdeckungsfreude Elemente der Musik anderer Kontinente und Kulturen in ihr Programm einbauten. Chormusik beinhaltet beim DCW mittlerweile auch das solistische Agieren, vertreten durch die Sektion „Vokalensemble“, die in Weimar zum zweiten Mal dabei war. Landauf, landab sprießen solche Formationen aus dem Boden. Und auch hier experimentiert man mit eigenen Stücken, erzeugt mit Mikrofonen die abenteuerlichsten Klänge oder bietet puren a cappella-Genuss in der Art der „King’s Singers“ oder des „Ensembles Amarcord“. Dass schließlich von den 14 Kategorien inzwischen 5 in den Kinder- und Jugendchorbereich fallen, stimmt optimistisch. Hier zeigt sich, dass die hohe Qualität des Chorsingens auch bei den Jüngeren angekommen ist – auch die vielen Auszeichnungen spiegeln dies wider. Die Souveränität und Gesangsfreude, mit der hier die Programme gemeistert werden, lässt hoffen, dass sich die im Aufwind befindliche Chorszene über ihren Nachwuchs wenig Sorgen machen muss.