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Ein Musiker auf der Bühne mit dem Rücken zu uns.

Ahmetjanova (Anders Nyqvist, Trompete).

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Bewegliche Identitäten – „The Tower of Babel“ – ein Konzertprojekt des Klangforum Wien im Konzerthaus Wien

Vorspann / Teaser

Innerhalb des 40. Internationalen Musikfestes im Konzerthaus Wien gestaltete das Klangforum Wien am 18. und 19. Juni 2023 ein Minifestival unter dem Titel „Tower of Babel“. Eine Podiumsdiskussion und zwei Konzerte beleuchteten künstlerische Positionen in einem Territorium, das unter dem Begriff postsowjetisch zusammengefasst war. Schon ein Blick auf das Line-Up der durchweg international präsenten Komponistinnen und Komponisten zeigte aber, dass eine solche Begrifflichkeit kritikwürdig, wenn nicht gar obsolet ist.

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Respekt darf man dem Klangforum Wien attestieren, überhaupt den Schritt zu solch einer Veranstaltung gegangen zu sein, sind doch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Pfeiler eines riesigen Raumes östlich von uns in permanenter Entwicklung, und zwar keinesfalls in dem irreführend einenden Begriff des Postsowjetischen, sondern es sind verschiedene Länder, Ethnien und Menschen zu betrachten, die in komplexen politischen wie gesellschaftlichen Systemen unterwegs sind. In dieser Gemengelage gilt es zu respektieren und zu differenzieren, will man ein Verständnis eines status-quo von Gegenwart und Jetzt-Gefühl überhaupt fördern.

Dass dies verbal überhaupt zum jetzigen Zeitpunkt angerissen werden kann, wogegen sich etwa die ukrainische Komponistin Anna Korsun mit Recht auch im Vorfeld aussprach, weil kulturelle Situationen und Gefühlslagen mitten in einem seit eineinhalb Jahren währenden Krieg kaum erklärt, noch sinnstiftend theoretisiert werden können, war spätestens nach der zweistündigen Podiumsdiskussion bei „Tower of Babel“ klar. Korsun nahm dennoch teil und unterstrich, dass Musik nicht einer Nation oder Theorie zugehörig ist, sondern der Welt gehört. Und die ist so divers und kontrovers, wie es eben der vielsprachige Babelturm evoziert – auch und gerade in der erschütternden Jetztzeit, mit der sich die porträtierten Komponistinnen und Komponisten konfrontiert sehen, die allesamt sehr unterschiedliche Biographien aufweisen und überwiegend schon lange in Ländern des Westens leben.

„Musik – vor allem die zeitgenössische – ereignet sich nie in einem aseptisch-losgelösten Raum“, so der Leiter des Klangforum Wien, Peter Paul Kainrath. Die Betrachtung eines – tatsächlich imaginären – Kulturraums lässt sich nur in der Vielheit erfahren, daher mussten die zehn ausgewählten musikalischen Handschriften in den beiden Konzerten ebenso inklusiv wie exkludierend sein – und gottlob hat niemand behauptet, diese Präsentation wäre eine repräsentative Auswahl. Zwischen vermessen und Vermessung besteht oft nur eine kleine Metaebene im Ausdruck – das Klangforum entschied sich für Letzteres und überließ die Einträge in die Maßtabellen seinem interessiert beiwohnenden Publikum im Konzerthaus.

Die zweiteilige, mit zu vielen spannenden Teilnehmern akademisch in Volllast fahrende Podiumsdiskussion räumte zuvor schnell mit Begriffen und Standardisierungen auf: keine(r) der Diskutanten konnte sich in postsowjetischen Identitäten verorten, die auch immer weniger von Soziologen oder Historikern benutzt werden, zumal der Begriff zeitlich in eine unendliche Zukunft schreibt und eine Einheit vorgaukelt, die es nicht gibt. Der seit vielen Jahren in Berlin lebende Komponist Sergej Newski etwa sieht eine Identitätsbildung als Reaktionssumme von Erfahrungen und als beweglichen Akt innerhalb von sich verschiebenden Kontexten.

Und fast alle Anwesenden hatten eine so kosmopolitische Biografie aufzuweisen, dass eine „common culture“ gar nicht in den Mittelpunkt rückte. Die Komponistin Jamilia Jezylbekova wies zudem auf die unterschiedlichen Tempi der Entwicklungen in den ehemaligen Teilrepubliken hin und damit verbunden auch auf die selektive Wahrnehmung darauf, wie etwa in ihrer Heimat Kasachstan. Dass man nach den zwei Stunden Standortbestimmung einigermaßen überfordert zum Konzert wechselte, lag in der Natur der Sache, diesen Babelturm gar nicht seriös vermessen zu können.

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In den zehn in den Konzerten präsentierten musikalischen Positionen aus Armenien, Belarus, Estland, Georgien, Kasachstan, Lettland, Russland und der Ukraine wurde der Babelturm zumindest mehrfach umrundet und betrachtet. In der Stückauswahl schien man sich das Klangforum auf besonders kompromisslose und radikale Handschriften konzentriert zu haben, schon allein, da diese Haltung in historischen Kontexten unter wechselnden Regimes immer wieder als Position inneren und äußeren Widerstands aufschien. Aber auch solche Begrifflichkeiten sind diskutabel, zumal die überwiegend aktuellen Stücke der Komponisten höchst individuelle Zugänge zeigten, die gleich im ersten Konzert von strömender Poesie in Age Veeroos „Ich sehe Federn wachsen im Sand der Wüsten…“ bis hin zu einer amboss-hämmernden Hommage an Arseni Awraamovs „Symphonie der Sirenen“ aus den 20er-Jahren in Alexey Sysoevs „Col Pugno“ reichte.

Dazu gab es eine Tamtam-Erkundung von Valery Voronov, gespielt von Björn Wilker, und zwei weitere spannende Ensemblestücke: Jamilia Jazylbekova formte in „Les illusions de l’âme eine Sprache von Wechselwirkungen, die in einer Art Metaebene auch die eigene Musik beeinflusst. Alexander Khubeevs „The Codex of Thoughtcrimes“ wurde zum Abschluss uraufgeführt. Performer von Cantando Admont traten zum Ensemble (Leitung Bas Wiegers) hinzu, das Stück kratzte an der Grenze zum Musiktheater. Mit „Gedankenverbrechen“ (ein Begriff aus Orwells „1984“) beschäftigte sich der Komponist hier durch in Pappröhren artikulierte Sprachfragmente, eine bedrückend machende Verschleierung und Verzerrung von Ausdruck entstand.

Der Titel von Dariya Maminovas Komposition, die das zweite Konzert eröffnete, hätte auch über dem ganzen Projekt stehen können: „I don’t know whether the Earth is spinning or not …“ war aber die erste Zeile aus einem Gedicht von Velimir Chlebnikow, zu welchem Maminova mit viel Körperausdruck in ihrer eigenen Performance eine Art poetischer Kammer formte, die Fassungslosigkeit tatsächlich als Qualität herstellte. Wer dann noch nie Musik des Georgiers Mikheil Shugliashvili (1941-96) gehört hatte, durfte über eine packende Aufführung seines 1973 geschriebenen Sextetts für zwei Klaviere und Streichquartett staunen. Dieses Stück saß wie ein Keil in beiden Konzerten und spülte in seiner Radikalität auch die Ohren durch, die doch auch manch wenig Fassbares in einigen Ensemblestücken verdauen mussten.

Anna Korsuns „Ucht“ (plattdeutsch für „Sonnenaufgang“) wirkte in seinen klar konturierten Farben und Stimmungen, und das gleißende Triangellicht zum Schluss hatte sogar etwas Versöhnlich-Warmes, auch wenn es in der Massierung schon wieder ins Unwirkliche kippte. Dass eine künstlerische Äußerung auch kurz und knackig überzeugen kann, zeigte Asia Ahmetjanovas „Beth“ für Trompete Solo, in welchem Anders Nyqvist einen (Eigen-) Widerstand bis zum fertigen, „gestandenen“ Ton überwand, bevor Aram Hofhannisyans „Strophes-Segments“ für Oboe, Bassklarinette, Akkordeon und 10 Instrumente dann in einer wiederum babelhaftigen Polyphonie und Strukturen von Aktion und Reaktion das Projekt beschloss – unter großem Beifall des Publikums, das damit nicht nur die hervorragenden, durchweg seriösen und klangintensiven Interpretationen des Klangforum Wien (am zweiten Abend geleitet von Vitali Alekseenok) bejubelte, sondern auch den Mut zur Auseinandersetzung und die Möglichkeit des Vernehmens der künstlerischen Stimmen. Wer mit offenem Ohr und ohne den Anspruch verfertigter Antworten auf tönenden Silbertabletten in diese Veranstaltungen ging, wurde mit einer Entdeckungsreise belohnt, die nachwirkte und den künstlerisch individuellen Persönlichkeiten und beweglichen Identitäten Raum ließ.

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