Silke Aichhorn: Frohlocken leichtgemacht!? Neue skurrile Geschichten aus dem Alltag einer Harfenistin +++ Paula Eichhorn (Grafik), Felix Janosa (Text): Die Beatles, das Universum und der Rest +++ Bettina. Film von Lutz Pehnert +++ Katharina Zweig: Die KI war’s! Von absurd bis tödlich: Die Tücken der künstlichen Intelligenz +++ Stefan Schulz: Passion Project; mit Werken von Purcell, Schubert, Schnyder, Mario de Andrade und Stefan Schulz +++ Aux Étoiles. French Symphonic Poems. Orchestre National de Lyon, Nikolaj Szeps-Znaider +++ Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte +++ Caroline Shaw, Attacca Quartett: Orange +++ „Du bist mir Kunst“. Der Briefwechsel Alma Mahler – Walther Gropius 1910 bis 1914
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nmz Tipps - 2023
Frohlocken leicht gemacht
Ursula Gaisa ::: Silke Aichhorn: Frohlocken leichtgemacht!?
Silke Aichhorn: Frohlocken leichtgemacht!? Neue skurrile Geschichten aus dem Alltag einer Harfenistin, 226 Seiten, HÖRMUSIK 2023, ISBN 978-3-9817880-5-1, € 18,90
Auf dieses Buch war ich echt gespannt, denn eigentlich entspricht die Harfenistin ja dem Klischee „Frau mit langen Haaren“. Doch das schwarze Lederoutfit mit Corsage und scharzen Flügeln auf dem Cover dann wieder so gar nicht. Wie schon im ersten Band „Lebenslänglich Frohlocken“ nimmt einer der aktivsten europäischen Solo-Harfenistinnen uns mit in ihren Alltag. Da haben niederländische Fahrer fürchterliche Angst vor drei Schneeflocken, der Provianteinkauf in einer bayerischen Bäckerei während einer eh schon abenteurlichen Strecke mit allerlei Stau von Konzertort zur Konzertort wird zu einer psychischen Zerreißprobe. Und da waren noch die sehr lustigen kühlen Fernsehaufnahmen für eine ZDF-Weihnachtssendung mit Jonas Kaufmann während des Lockdowns. Aichhorn ist auch noch für den Regionausschuss Jugend musiziert tätig, was weitere Anekdoten nach sich zieht. Denn Eltern und Großeltern sind, wenn es um die Karriere ihrer Kinder und Enkel geht, auch oft nicht so ganz vernünftig und zurechnungsfähig. Mal was zum Lachen in nicht so lustigen Zeiten und eine herzliche Empfehlung.
Ursula Gaisa
Theo Geißler ::: Paula Eichhorn (Grafik), Felix Janosa (Text): Die Beatles, das Universum und der Rest
Paula Eichhorn (Grafik), Felix Janosa (Text): Die Beatles, das Universum und der Rest, Hardcover, 176 einzeln gestaltete Seiten, Ueberreuter Verlag 2023, ISBN 978-3800078462, € 25,00
Unter anderem der Versuch, eine tiefe Bildungslücke meines Enkels, 14, (normalerweise erfolglos) zu füllen – trieb mich zur eingangs befes-tigten, generationenübergreifenden, dringenden, analogmedialen Empfehlung. Mein Autoradio füttere ich, der KI-gesteuerten Plattsound-Rotation allfälliger sogenannter Info- Sender überdrüssig mit eigengeschmack-verlesenen, abwechslungsreichen Kompilationen meiner Lieblings-Musiken aller Art. Auf einer längeren Fahrt, neben mir der offensichtlich gelangweilte Enkel, ergab es sich, dass einer meiner Beatles-Lieblingssongs, „For No One“ aus der ohnehin legendären „Revolver“-LP aus dem Jahr 1966 zu meiner Freude erschallte, nicht zu der meines Enkels: „Was ist denn das für ein Klassik-Schrott“ nölte er mitten in das wunderbare Horn-Solo des Titels. Meine kenntnisreichen verbalen Erläuterungen über Lied und Interpreten lösten nur den Kurzkommentar aus: „fader Klassikschrott“. Trotzig wechselte ich zu einer Bruckner-Sinfonie und löste Stille und Schlaf aus. Leicht angesäuert ging ich tags drauf in eine kleine aber feine Buchhandlung und kramte in der eher kargen Beatles-Literatur. Fand, quadratisch kräftig gebunden, prächtig fantasievoll illustriert das eingangs bibliographierte Opus. In einer stillen Ecke begann ich zu blättern und bekam nach etwa zwei Stunden einen Espresso serviert mit der Frage, wie ich diese Neuerscheinung fände. „So spannend und informativ, dass ich sie kaufe, obwohl ich in einer Redaktion arbeite, die bestimmt noch ein Rezensionsexemplar erhält“. Gesagt und gut getan, denn das Rezensionsexemplar ist bis heute nicht angekommen. Wahrscheinlich hat es ein beatlesvernarrter Zusteller einbehalten. Sogar mein Enkel fand das Werk („eine geil gemachte Grafik-Novel, sogar den Text mag man lesen – streckenweise“) interessant. Ich auch. Denn die unglaublich fein animierende Illustration und der mit mindestens tausend bestens recherchierten und würzig formulierten Infos versehene Text lockten mich zum Kauf einiger weiterer Exemplare (die der kleine aber feine Buchhändler – da ausverkauft – gern bestellte.)
Theo Geißler
Barbara Haack ::: Bettina. Film von Lutz Pehnert
Bettina. Film von Lutz Pehnert, auf DVD und auf gängigen Streaming-Plattformen ausleihbar
Der Film dokumentiert das Leben der Sängerin Bettina Wegner, die als Kind mit ihren Eltern von West- nach Ostdeutschland übersiedelte und hier früh mit Polizei und Gericht, später mit Zensur bis hin zum Berufsverbot in Berührung kam, die trotzdem viele Jahre als Liedermacherin in der DDR auftrat und erst nach Androhung von Gefängnis in die BRD übersiedelte. Die informative wie bewegende Dokumentation zeigt Bilder von Wegners frühen und späteren Auftritten, Ausschnitte aus Interviews, transkribierte Audio-Aufnahmen eines Verhörs und Kommentare von Wegbegleitern. Vor allem zeigt sie uns eine großartige Künstlerin und eine zart wirkende, aber ungeheuer starke Frau, die sich in allen Lebenslagen selbst treu bleibt, unbeirrt ihren Weg geht und zu ihren Werten steht – bis heute.
Barbara Haack
Martin Hufner ::: Katharina Zweig: Die KI war’s!
Katharina Zweig: Die KI war’s! Von absurd bis tödlich: Die Tücken der künstlichen Intelligenz. Heyne Verlag, 320 Seiten , München 2023, ISBN 978-3453218567, Paperback, € 20,00
Kein anderes sozialtechnologisches Phänomen hat uns in diesem Jahr wohl so bewegt wie das Thema Künstliche Intelligenz. Katharina Zweig lehrt an der TU Kaiserslautern Informatik. Nach ihrem Bestseller „Ein Algorithmus kennt kein Taktgefühl“ erörtert sie die Tückenhaftigkeit, aber auch die Vorteile dieser Technologien und ist damit dieser Entwicklung auf der Spur. Dabei geht sie in die Tiefen von Mathematik und Prozesssteuerungen, um zu erklären, wie Menschen, Maschinen und Tiere Entscheidungen fällen – aber keine Angst, es wird alles für Laien nachvollziehbar erklärt. Sie plädiert für eine Computerverhaltenslehre. Nur wer weiß, was genau technologisch geschieht, kann abschätzen, was jetzt getan werden sollte und welchen Fragen wir uns stellen sollten. Dämonisierung oder Anbetung sind nicht die Alternativen. „Verantwortlich sind (…) wir Menschen, wenn wir die Maschine in Entscheidungsprozessen nutzen.“ Ein Glossar und Literaturverzeichnis runden diese Einführung ab.
Martin Hufner
Andreas Kolb ::: Stefan Schulz: Passion Project
Stefan Schulz: Passion Project; mit Werken von Purcell, Schubert, Schnyder, Mario de Andrade und Stefan Schulz. SCHULZ Records kr 10182, www.berliner-philharmoniker-recordings.com
Unterstellen wir, die Entscheidung Musiker zu werden, hat immer etwas mit Passion für die Sache Musik zu tun. Solcherart Leidenschaft kann im Laufe vieler Dienstjahre in dem arbeitsteiligen Apparat Symphonieorchester in Gefahr geraten abzuflauen. Selbst wenn man, wie der Bassposaunist Stefan Schulz, Mitglied eines höchst renommierten selbstverwalteten Orchesterkollektivs wie den Berlinern ist. Was tun? Teure Uhren sammeln? Edle Weine oder Sportwagen? Schulz gibt mit seinem CD-Projekt und – hoffentlich auch Konzertprogramm – „Passion Project“ eine überraschende und dem Hörer Freude bereitende Antwort auf solche Fragen. Schulz hat sich mit einigen Spitzenmusikern zusammengetan und ein Programm kleiner Preziosen zusammengestellt, denen nichts vom großen Blech-Aplomb á la Mnozil Brass oder Blechschaden eigen ist. Posaunisten-Poesie pur! Die allseits bekannte Stimme Christian Brückners steuert Gedichte und Aphorismen bei: „Meine Zeit ist zu kurz, um Überschriften zu diskutieren, ich will das Wesentliche, denn meine Seele ist in Eile.“ (Mario de Andrade).
Andreas Kolb
Juan Martin Koch ::: Aux Étoiles. French Symphonic Poems
Aux Étoiles. French Symphonic Poems. Orchestre National de Lyon, Nikolaj Szeps-Znaider. Bru Zane (2 CDs), € 26,99
Wer neben einem schönen Weihnachtsgeschenk auch ein gutes Argument dafür sucht, warum nach wie vor physische Tonträger produziert werden sollten – voilà: Diese Doppel-CD der Schatzgräber von Bru Zane, dem Centre de musique romantique française, vereint 15 französische Tondichtungen, überwiegend aus der Spätromantik, in einer vorbildlichen Box mit ausführlichem Booklet. Neben einigen Schlagern des Repertoires (Franck, Saint-Saëns, Chabrier, Dukas) begeistern vor allem die Raritäten, darunter Ersteinspielungen und Werke von vier Komponistinnen: Augusta Holmès, Mel Bonis, Lili Boulanger und Charlotte Sohy. Hervorragend gespielt und aufgenommen ist das Ganze auch noch – ein Griff nach den Sternen!
Juan Martin Koch
Rainer Nonnenmann ::: Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte
Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte, Aufbau Verlage, Berlin 2023, gebunden, 648 Seiten, ISBN 978-3-8477-0023-4, € 58,00
Die Musikgeschichte des 20. und vor allem noch jungen 21. Jahrhundert kennt viele Komponistinnen. Doch wie sieht es in Romantik, Klassik, Barock, Renaissance, Mittelalter aus? Gab es damals wirklich nur diese wenigen musikschaffenden Frauen, die wir heute noch kennen? Mitnichten! Wer das ewig gleiche Repertoire leid ist, folge Arno Lücker zur weithin vergessenen Musik von Ordensfrauen, Adeligen, Bürgerinnen, Salondamen, Pianistinnen, Sängerinnen, Professorinnen. Von den kurz porträtierten 250 Komponistinnen kennt selbst der Fachmann nur ein Fünftel. Wer hat schon Musik von Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel gehört? Oder von Elsa Respighi, Schülerin und dann Frau von Ottorino? Auf je zwei, drei Seiten umreißt der Musikwissenschaftler Lebenslauf, sozialen und historischen Hintergrund. Zudem beschreibt er kreativ-bildreich je ein ausgewähltes Werk. Die Lektüre macht Spaß und eröffnet neue Horizonte. Aufnahmen aller Stücke findet man per QR-Code auf der Website des VAN-Magazins, wo Lückers Kolumne über Komponistinnen zwischen 2019 bis 2023 zunächst erschien.
Rainer Nonnenmann
Mathis Ubben ::: Caroline Shaw, Attacca Quartett: Orange
Caroline Shaw, Attacca Quartett: Orange, CD, EAN 075597926095, Label Nonesuch, € 19,99
Auf ihren Alben mit dem Attacca Quartett liefert Caroline Shaw eine Musik, die erstaunlich aufrecht zwischen den Stühlen sitzt. Es spielt keine Rolle, ob diese Musik als progressiver instrumentaler Pop oder als ein Beispiel für mutige Anit-Avantgarde-Kompositionen aus dem 21. Jahrhundert verstanden wird: Mit dem ersten Album „Orange“ kann man Menschen eine Freude machen, die Lust auf gefällige akustische Klangschönheit haben und auch darauf, aufmerksam zuzuhören. In der einen Nummer dominieren eher mathematisch wirkende Formen, in einer anderen wundert man sich über die ungebrochene Pop-Harmonik und dann wieder klingt eine tonale zeitgenössische Komposition an. So gesehen fordert die CD durchaus die Hörgewohnheiten heraus und belohnt mit einer unvorhersehbaren Reise durch das schöne Leben, fein und modern von einem Streichquartett gestrichen. Wenn die letzte verschenkte Quartett-CD mit Standardrepertoire hauptsächlich als Messgerät für die Staubbelastung des Regals dient und die Crossover-CD davor als ein bisschen peinlich wahrgenommen wurde: Diese CD ist wirklich einen weiteren Versuch wert!
Mathis Ubben
Michael Wackerbauer ::: „Du bist mir Kunst“. Der Briefwechsel Alma Mahler – Walther Gropius 1910 bis 1914
„Du bist mir Kunst“. Der Briefwechsel Alma Mahler – Walther Gropius 1910 bis 1914, hrsg. von Annemarie Jaeggi und Jörg Rothmann, 781 S., Abb., Residenz Verlag, Salzburg 2023, ISBN 978-3-7017-3594-5, € 49,00
In den mehr als 400 Briefen ist die zunächst sehr heftige Affäre mit dem jungen Architekten und späteren Bauhaus-Gründer dokumentiert, die noch zu Lebzeiten des 1911 verstorbenen Gustav Mahler ihren heimlichen Anfang nahm und nach deren Auffliegen das künstlerische Verhältnis des Ehepaars produktiv beeinflusste, denn: Bekanntlich ging die seelische Verarbeitung der Beziehungskatastrophe zum einen in die ideelle Konzeption der unvollendet gebliebenen 10. Sinfonie ein und brachte zum anderen Mahler nun endlich dazu, die bis dahin von ihm unterdrückten kompositorischen Ambitionen seiner Frau zuzulassen und zu fördern – ein weiterer, sorgfältig edierter Baustein zum unerschöpflichen Kosmos Alma.
Michael Wackerbauer
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