Nachdem die Musikwelt über den Film Tár in einer Weise in Aufregung geraten ist wie kaum über die Uraufführung irgendeines beliebigen Musikwerks der letzten Jahrzehnte, lohnt sich vielleicht ein Blick zurück, auf das erste Mal, da gleichfalls Gustav Mahlers 5. Symphonie filmisch sehr prominent promoviert wurde. Natürlich nicht ganz, sondern im berühmt-berüchtigten Ausschnitt: 1971 in Luchino Viscontis Der Tod in Venedig. Vielleicht ist im Rückblick etwas darüber zu erfahren, was das halbe Jahrhundert mit dieser Musik gemacht hat, wie man mit ihr umgegangen ist, was sie einem bedeutet hat, ob überhaupt und wenn, dann was dies sagen kann über den Umgang mit Ernster Musik damals wie heute.
Mahlers Fünfte nach Tár und 50 Jahre nach Visconti
Um mit der Eröffnungssequenz zu beginnen: Während wir die Dirigentin Lydia Tár durch das Handydisplay im Chat eines Videoanrufs sehen, mit gehässigen Kommentaren unbekannter Teilnehmer, indessen sie im luxuriösen Ambiente eines Privatjets schläft, blättert der in Decken gehüllte Dirigent Gustav von Aschenbach in einer Philharmonia-Partitur im Liegestuhl eines Dampfers, welcher durch das Sfumato der Lagune schippert zu den Klängen des Adagietto aus Mahlers 5.; dies hob gleichzeitig mit dem Vorspann an und leitete in eine sorgfältig gefilmte Paraphrase von William Turners verschwimmenden Venedig-Aquarellen hinüber. Jet hie, Dampfer da; Handy hie, Taschenpartitur da, Pixel versus Pinselstreich; lesbische Frau hie, alter weißer Mann da, zudem einer mit verdrängtem homosexuellen Begehren. Professionell dirigieren tun sie beide, und beide sind sie synthetische Figuren. Tár trägt im Hoch-, ja Höchststatus so offenkundig alle aktuellen soziokulturellen Labels, wie Aschenbach die alten und ist zudem ein Verschnitt von Gustav Mahler, dem Leverkühn des Zauberberg wie von Thomas Mann selber. Aber die Parallelen und Gegensätze, sofern sie vom Regisseur Todd Field überhaupt beabsichtigt waren, hören spätestens bei der Musik auf. Also recht früh.
Vor allem in Deutschland haben die Mandarine der Musikwissenschaft (Dahlhaus, Eggebrecht, Metzger u.a. …) Visconti seinerzeit vorgeworfen, die F-Dur-Seligkeit des Adagietto verraten und verkauft zu haben zugunsten eines Aus- oder Eindrucks, welche, so deren Meinung grob, nicht zu haben wären ohne die Mühen des Ganzen, nicht ohne mindestens durch Mahlers längstes Scherzo vorher derb durchgeprügelt worden zu sein. Dahlhaus gar konnte im Feuilleton der Zeit seitenlang über die „Rätselhafte Popularität“ von Mahlers Musik sinnieren: was für Zeiten!
Unvorstellbar, dass nach Tár ähnlich breit und tief hätte geschrieben werden können. Wiewohl, an der spezifisch deutschen Sicht dieser Deuter mochte und mag was dran sein. Aber sie war und ist völlig mit Blindheit geschlagen für die Kongenialität, mit der Visconti ans Werk gegangen ist, an seinen Film, der so voll Respekt und Liebe mit Mahler und Mann und Venedig spielt, mit kostbaren Licht- und Tonwechseln, so voller Atem und langsam pulsierender Zeit. Die gibt das Adagietto vor, das beginnt, noch bevor der Film anfängt. Und auch nachdem man den leblosen Körper von Mahler/Aschenbach wie einen Sack vom Strand des Lido entfernt hat, wird es noch lange nach der Finsternis des Abspanns nachklingen. Mahlers Musik ist es, die bleibt.
Davon bleibt bei Tár wenig übrig, bis auf illustrative Schnipsel: Trompetensolo zu Beginn, Schlussakkord zweiter Satz. Den Rest übernimmt das Marketing-Sprech des Universal-Labels Deutsche Grammophon. Das Adagietto wird kurz und bündig biographisch abgehandelt: Liebeslied für Alma, klar. Und spitzzüngig fällt einmal der Name Visconti, nur damit Tár nachschieben kann, sie würde das Adagietto mit 7 Minuten ebenso rasend nehmen wie Mengelberg – und sonst niemand. Dem entsprechend kommen weder die Figuren noch die Menschen noch die Musik zu Zeit und Atem, und allesamt zappeln oder zappen sie sich stichworthaft durch die gängigen Themen: Gender, Suprematismus, Cancel Culture, Medien, Sponsoring, Vermittlung, freie Bogenführung, Bernstein, Bla, Bla…
Überhaupt wird in dem Film durchweg irrsinnig viel geredet, vor allem wenn man sich erinnert, wie wenig Dirk Bogarde, ein wahrer Sprach-Schauspieler, bei Visconti als Aschenbach zu sprechen hat: kaum ein Dutzend Sätze, ansonsten ist alles konzentriert auf das technisch perfekt inszenierte Zusammenspiel von Blick, Mienenspiel, Geste. SchauSpielMusik mag man denken und daran, dass genau so Dirigenten kommunizieren, wie sehr viele Orchestermusiker es sich immer wünschen. Heutzutage allerdings, da es Dirigenten wie Teodor Currentzis gibt, da kann auch Cate Blanchett eine Schauspielerin sein, die eine Dirigentin spielt. Und ersteres macht sie wirklich sehr gut.
Doch zurück zu Mahler. Da ist die kurze Spitze gegen Visconti umso niederträchtiger, da ohne dessen Tod in Venedig kaum einer der Tár-Verantwortlichen überhaupt auf die Idee gekommen wäre, Mahlers 5. Symphonie filmisch zum Hauptwerk und -thema zu küren.
Sie zu nehmen und aus dem Schriftsteller Aschenbach der Novelle den Dirigenten Aschenbach im Film zu formen, das nämlich war Viscontis ureigene künstlerische Entscheidung, freilich dadurch gestützt, dass Thomas Mann, der Mahler mehrfach persönlich gesehen hatte und Bruno Walter gut kannte, selber die Ähnlichkeit von Mahler und Aschenbach nahelegte. Das alles bedeutete für Tár bloß ein derart hoch akkumuliertes musikwirtschaftliches Kapital, an dem die Macher anscheinend nicht vorbei konnten – etwa mit einer eigenen Vision. „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ aus Mahlers Rückert-Liedern, das Lied, welches dem Adagietto zugrunde liegt und programmatisch ist für Viscontis Plot, scheint Tár ziemlich wurscht. Aber, es ging nicht anders, Mahlers 5. musste her, egal was es damit auf sich hat, egal dass niemand im Betrieb jemals auf die Idee verfiele, eine Gesamteinspielung der Mahler-Symphonien (wie deren Umstände auch sein mögen) mit der eher unproblematischen 5. enden zu lassen, und nicht rein pragmatisch mit einer derjenigen Symphonien, die ob planerischen Aufwands (2, 3, 8) beziehungsweise musikalischer Reifung (7, 9) wesentlich mehr Zeit benötigen.
Mahler lieben
Musikwirtschaftlich akkumulierte Bedeutsamkeit war es letztlich auch, die dem Film auch sein Nebenwerk aufgedrückt hat, auch wenn, abermals, im realen Konzertbetrieb die Kopplung von Mahlers gut und gerne über 70-minütiger 5. Symphonie mit einem romantischen Solokonzert keine wirklich gute Idee ist. Wenn gekoppelt, dann auch bitte inhaltlich intelligenter als hier. Aber Elgars Cellokonzert, ein feines, überlebt melancholisches, jedoch nicht wirklich anspruchsvolles Werk, besaß allein schon durch die Tatsache, dass es für Jacqueline du Prés fabelhafte und tragisch kurze Laufbahn steht, so viel Bedeutung, dass dieses Zugpferd auch noch her musste.
Als was erscheint also diese Musik und die Kunstmusik überhaupt in diesem Film? Als eine, die nicht aus sich zu wirken in der Lage ist, eine, die nicht ohne die Stütze von Wörtern, Symbolen, Labels und Lebensgeschichten auskommen kann; eine Musik die, weil man Sache und Gegenstand von musikalischer Bildung längst verloren hat, angewiesen ist auf die kuratierte Erfahrung, eben weil man der eigenen längst entsagen musste. Es ist eine Musik der MINT-Hölle, und was von ihr bleibt, ist der pure hochpreisige Lifestyle: Mahlers 5., das ist Deutsche Bank, ist Berliner Philharmoniker, ist Deutsche Grammophon, das sind die exquisiten Interieurs, das ist der hybride Porsche Panamera, den Tár fährt – somit all das, das verheißt dieser ausgestreckte Finger, was Ihr in Duisburg oder Regensburg niemals so perfekt hinbekommen werdet. Um aber dessen ungeachtet den habituell hohen Anspruch aufrecht erhalten zu können, um diese gnadenlose Spaltung zu kitten, dafür muss der ganze neuzeitliche Sprech herhalten, das ganze Relevanz- und Anschlussgeschwurbel. Kunst verkommt so zu Kulturpolitik und Musik zu deren Soundtrack.
Dafür steht Tár, auch wenn es eine Parodie hätte werden sollen. Denn eine solche hat nicht nur Ziele, oder eher Zielscheiben. Sie hat auch einen Standpunkt, einen Ursprung, der spätestens in der Umkehrung zu erkennen ist oder im Negativ, als Abwesenheit. Was der Musik in Tár fehlt, ist jedoch nicht auszumachen. Dass die Dirigentin zum Schluss in Ostasien Livemusik zu einer Fantasy für Filmnerds macht, ist als Ende zwar bitterböse, verspricht aber nichts wirklich anderes außer den bekannten spätromantischen Tonfall.
Den Betrieb zu persiflieren, ohne die Musik zu lieben, ist jedoch so bedeutungslos wie ein Bratscherwitz und leer. Ein Film in der Art von Prêt à Porter, Robert Altmans ebenso profunder wie bös ironischer Parodie auf die High Society der Haute Couture mit ganz vielen Model-Cameos, hätte diese Leere vielleicht füllen können. Ein Film, man stelle sich vor, mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle einer Carlos Kleiber Paraphrase, und mit Brahms‘ verstörender Vierter als Hauptwerk, die mit herb melancholischer Trostverweigerung und formaler Vollkommenheit in diesen Zeiten uns womöglich härter in den Magen führe, als oberflächliche Anleihen bei einer Musik, der wir ohnehin abhandengekommen sind.