Über den Abgrund zwischen „Absicht und Wirkung“ könnte man lange musikhistorische Traktate schreiben. Schubert wollte Beethoven imitieren, und scheiterte auf geniale Weise. Ravel wollte eine einfache Instrumentationsetüde schreiben, heraus kam sein berühmtestes Werk („Bolero“). Schönberg wollte, dass „der einfache Mann“ seine 12-Ton-Melodien auf der Straße pfeift, tatsächlich bildeten sie die Grundlage für eine rein akademische Musikrevolution, die nie die Massen ansprach und nur als Klischee größere Bekanntheit erlangte („atonale Musik“, was inzwischen alles bezeichnet, was man musikalisch nicht versteht).
Für junge Komponistinnen besteht die Welt aus zahllosen Details, weniger aus dem großen Ganzen. Am Anfang des Kompositionsstudiums spielen Details in der künstlerischen Selbstfindung eine große Rolle – Stücke müssen mühsam aus diesen Details zusammengesetzt werden, wobei man sich oft noch schwertut. Hierbei überschätzt man gerne die eigene Deutlichkeit. Da wird zum Beispiel einem kleinen kontrapunktischen Einfall – der unter mehreren komplexen polyphonen Schichten gut verborgen ist – eine sensationelle Strahlkraft zugetraut, die er natürlich nie wirklich entwickeln kann, da der Hörer ja gar nicht weiß, in welchem Moment er auf dieses Detail hören soll.
Was für den unvorbereiteten Hörer eher im Vordergrund wirkt und was eher im Hintergrund bleibt, ist für Komponisten sehr schwer einzuschätzen. Auch ein Filmregisseur wird sehr oft eher Details sehen, wenn er eine Szene schneidet, dann ist es die Aufgabe des Cutters, den narrativ deutlichen Erzählfluss zu gewährleisten. Ähnliche Aufgaben kommen den Lektoren bei Literaturverlagen zu, die die Autorinnen daran erinnern, wie sich das Ganze eigentlich liest: flüssig? redundant? unklar?
Seltsamerweise fehlt in der Musik ein solcher assistierender Beruf, vielleicht, weil die Materie komplexer und vor allem subjektiver ist. Dem einen mögen die Schubertschen „Längen“ himmlisch erscheinen, dem anderen wäre sie einfach „zu lang“. In den Anfängen des Musikverlagswesens nahmen die Verleger bekanntlich sanft Einfluss auf die Komponisten, nicht immer zu deren Freude. Aber seitdem die Komponisten ihre Noten größtenteils selbst herstellen, ist dies von Verlagsseite einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen, solange die Werke aufgeführt werden. Eine Kritik des „Hörens“ fehlt oft komplett.
Nur während des Kompositionsstudiums kann der Lehrer diese Rolle übernehmen, aber auch er oder sie kann nicht aus seiner Haut heraus und wird nie etwas anderes als ein akademisch vorgebildeter Hörer sein (was die meisten Hörer nicht sind, aber auch nicht sein müssen). Wer ist der Hörer überhaupt? Muss er alle Absichten und jeden Insiderwitz verstehen? Ist es wichtig für den Hörer zu erkennen, dass Bach eine Obsession mit dem BACH-Motiv hatte oder gerne visuelle Kreuzsymbolik in seine Partituren einbaute? Viele zeitgenössische Partituren sind voller irrwitziger visueller Details, die sich beim Hören noch nicht einmal ansatzweise vermitteln. Teilt sich das alles sinnvoll mit?
Ein Student von mir zeigte mir neulich eine Partitur, in der ein Schlagzeuger plötzlich mitten im Stück in einem Mayonnaiseglas herumrührt. Ich fragte ihn nach der Absicht hinter dieser Idee und er erzählte mir eine lange Geschichte darüber, dass jeder, der eine ganz bestimmte Folge von „Sponge Bob“ gesehen hätte, diese Anspielung auf einen ganz spezifischen Dialog in dieser Folge sofort erkennen würde. „Das kennt doch jeder“, meinte er. Als ich dies vehement bezweifelte, entstand eine heftige Diskussion, die jetzt in diesen Artikel mündet. Auch hier werden Absicht und Wirkung weit auseinander gelegen haben.