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Arbeitsteilung historisch am Ende

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Demgegenüber stehen heutzutage viele Beobachtungen, die ,,endzeitliche“ Merkmale andeuten.

Jede historische Entwicklung läuft in Wellen ab. Insofern muss man in vieler Beziehung mit Beurteilungen und Zielsetzungen anhand absoluter Kriterien sehr vorsichtig sein. Zu oft erweisen sich die scheinbar absoluten Kriterien als historisch und geografisch bedingt und müssen insofern relativiert werden. Diese Tatsache immer berücksichtigend möchte ich für uns in der augenblicklichen Situation für eine viel breitere musikalische Ausbildung plädieren. Ich bin der Meinung, dass die arbeitsteilige Situation in der Musik historisch am Ende ist. Die absolute Konzentration auf ein einziges Instrument mit einer regelmäßigen Übezeit von vielen Stunden täglich hat in der Spitze fast unvorstellbare Leistungen hervorgebracht und auch in der Breite ein spieltechnisches Niveau provoziert, das es vorher nie gegeben hat. Insofern hat diese Tendenz natürlich auch ihre historische Rechtfertigung. Demgegenüber stehen heutzutage viele Beobachtungen, die ,,endzeitliche“ Merkmale andeuten. 1. Schaut man sich die Preisverleihungen bei großen internationalen Wettbewerben an, so fällt immer häufiger auf, dass die Jurys unzufrieden sind, weil bei allem Respekt vor der spieltechnischen Leistung interpretatorisch das Niveau nicht hoch genug sei. Es kämen keine neuen Ideen. Da gleichzeitig die Leistungen bei “Jugend musiziert“ noch steigen, lässt sich daraus nur konstatieren: Der Fortschritt besteht augenblicklich nur darin, dass Leistungen immer früher erbracht werden. Aber die Spezialisierung und der damit verbundene riesige einseitige Zeitaufwand verhindern, dass schöpferische Entwicklungen in ganz andere Richtungen vonstatten gehen. Stagnation macht sich breit.

2. Die Einseitigkeit bei dem heute geforderten technischen Niveau ist unmenschlich und macht krank. Zwei Drittel aller „Fortbildungsangebote“, die man auf den Schreibtisch bekommt, beziehen sich auf physische und psychische prophylaktische oder therapeutische Maßnahmen. Mittlerweile ist daraus ein ganz neuer Markt mit einem riesigen Angebot geworden – Medikamente nicht ausgeschlossen. Das kann nicht das Bild der Zukunft sein.

3. Die gleiche Stagnation wie im interpretatorischen Bereich ist in der professionellen Komponistenszene der ,,E-Musik“ zu beobachten. Zu viele sitzen zu tief im Sumpf der selbstgewählten Isolation, als dass sie gesellschaftlich relevante Veränderungen in Gang setzen könnten. Auch hier muss ein Aufbruch in ganz andere Dimensionen stattfinden. Das Pendel muss wieder umschlagen in eine viel breitere und vielseitigere Beschäftigung mit Musik, die alle Parameter und den ganzen Menschen mit einbezieht.

Dazu gehören sowohl geschichtliches Hintergrundwissen als auch theoretisches Wissen über die Machart unserer Musik, aber auch – und das ist ganz wichtig – das eigene Erfinden von Musik, der kreative Umgang mit musikalischem Material. Das eröffnet völlig neue Perspektiven bei der Interpretation historischer Musik. Menschlich gesehen ist es sehr viel besser, Körper, Kopf und Seele zu „trainieren“. Körperliche und seelische Lockerheit und die Sensibilisierung aller Sinne provozieren geradezu neue Ergebnisse.

Eigentlich steht solch einer Entwicklung nichts im Weg. In vielen Bereichen der „U-Musik“, des Jazz und anderer Kulturen wird schon einiges davon praktiziert, und die Zeiten, selbst kreativ mit Musik umzugehen, waren noch nie so günstig. Gemeinsame Sprache und allgemein verbindliche Beurteilungskriterien sind verloren gegangen und warten darauf, durch tausendfaches Experimentieren, Kombinieren und Erfinden neu entwickelt zu werden. Schon öfter in unserer Musikgeschichte haben Einflüsse aus der „U-Musik“ und Folklore, deren Klangvorstellung und lmprovisationspraxis festgefahrene Strukturen durchbrochen und dadurch erst eine Weiterentwicklung ermöglicht. Im Augenblick ist noch nicht abzusehen, welche Kriterien neue Sinnzusammenhänge eines grenzenlos verfügbaren Materials stiften – für Kulturpessimisten eine Art von Weltuntergang. Auf der anderen Seite macht das unsere jetzige Zeit so spannend. Alles ist in Lauerstellung, was passiert.

Deshalb kann man nur an alle Musiker appellieren, sich an dem Prozess zu beteiligen und kreativ mitzugestalten. Das betrifft Schüler und Lehrer an Musik- und Musikhochschulen genauso wie die Verlage, Konzertveranstalter, Sponsoren, Wettbewerbsinitiatoren, Verbände und schließlich den gesamten Musikmarkt. Der Fantasie, Kreativität zu stimulieren und zu fördern, sind keine Grenzen gesetzt. Allein der Wettbewerb “Jugend komponiert“ mit den Teilnehmerzahlen von “Jugend musiziert“ würde unser gesamtes Musikleben neu aufmischen. Man kann also nur Mut machen, immer das „Ganze“ im Auge zu behalten und sich kreativ zu beteiligen, egal an welcher Stelle im Musikleben man steht. Es lohnt sich.

 

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