Als ich studierte, war es sehr schwer, Studierende zu finden, die bei Kompositionsklassenkonzerten mitwirken wollten. Kaum eine Lehrkraft unterrichtete Neue Musik, diese endete historisch meistens bei Prokoffieff. Das einzige Neue-Musik-Ensemble an der Hochschule wurde von einem alkoholkranken Tubisten geleitet und raffte sich nach meiner Erinnerung nur ein einziges Mal während meines Studiums zu einem Konzert auf (ohne Beteiligung der Kompositionsstudierenden).
Auf der Jagd nach den Punkten
Seit der Einführung des Bachelor/Mastersystems hat sich einiges geändert. Nun bekommen Studierende sogenannte „Neue Musik“-Punkte, wenn sie an einem Projekt der Kompositionsklassen mitmachen. Und diese Punkte sind tatsächlich notwendig, um das Studium abzuschließen. Hat sich der Enthusiasmus für Neue Musik seither gesteigert? Die Antwort ist kompliziert.
Grundsätzlich spielt zeitgenössische Musik inzwischen eine wesentlich größere Rolle an den Musikhochschulen. Das hat mit der Veränderung des Repertoires zu tun, damit, dass der Konkurrenzdruck etwa in den Orchestern sich erhöht hat und eine größere Vielseitigkeit gefordert wird und natürlich auch mit der zunehmend größeren Neue-Musik-Kompetenz bei den Lehrkräften. Dennoch wissen wir Kompositionsprofessoren nach wie vor ganz genau, welche Kolleginnen und Kollegen man bei der Suche nach Studierenden ansprechen kann und welche nicht. Wenn es sich um Instrumente mit jungem Repertoire handelt (wie zum Beispiel Schlagzeug oder Akkordeon), ist die Offenheit gegenüber Neuer Musik groß und die Studierenden sind von sich aus hochengagiert. Bei den „traditionellen“ Instrumenten kann man aber zum Teil lange suchen. Bei manchen Kolleginnen und Kollegen ist das Interesse derart gering, dass sie noch nicht einmal Mails beantworten, was für meine Studierenden sehr frus-trierend ist.
In jedem Studienjahr findet man schnell heraus, wer von den Studierenden für Uraufführungen ansprechbar ist und wer nicht, und auf natürliche Weise entstehen die Besetzungen dann um diesen Pool der „Willigen“. Gleichzeitig gibt es aber auch das Phänomen der „Punkteschacherei“. Regelmäßig bekomme ich Mails von Studierenden, die kurz vor Ende ihres Studiums merken, dass ihnen noch die Neue-Musik-Punkte fehlen.
Diese bieten ihre Dienste dann von sich aus an, aber man kann ihnen nicht immer helfen, wenn ihr Instrument gerade nicht in einer Besetzung vorgesehen ist. Dann gibt es die, die aus einem Einsatz von wenigen Takten in einem 5-minütigen Ensemblewerk das Maximum an Punkten herausholen wollen. Es gibt zwar Richtlinien, wie viele Stunden Probenarbeit in wie vielen ECTS-Punkten resultieren, aber wie genau kann ich als Professor kontrollieren, wie viel Student X an einem Stück genau geübt hat?
So entstehen ständig Ungerechtigkeiten – Studentin Y bekommt vielleicht für ihren Einsatz bei einem Kompositionsklassenkonzert mit vielen Uraufführungen und großem persönlichen Übeaufwand genau so viele Punkte wie Student Z, der erst zur GP erschien und in nur einem einzigen Stück alles vom Blatt spielte. Und genau da sitzt das Problem: Punkte ersetzen kein echtes Engagement, man leistet sie vielleicht eher als einen Dienst ab. Wir als Kompositionsklasse fühlen uns dann oft wie ein drittes Rad am Wagen unserer Institution, dabei müsste der Fokus auf lebendiger und gelebter Musik an einer Musikhochschule eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein und alle Klassen eng mit der Neuen-Musik-Abteilung zusammenarbeiten.
Die engagierten Studierenden, die von selbst Initiative zeigen und für Uraufführungen von Studierenden immer offen sind, bekommen nämlich am Ende eine viel größere Belohnung als schnöde Punkte: sie sammeln echte Erfahrung für ihr Berufsleben, die ihnen wesentlich mehr nutzen wird als jedes ECTS-Protokoll. Dass es aber solche Studierenden überhaupt gibt, ist auch Verantwortung ihrer Lehrerinnen und Lehrer.
Vielleicht sollte es auch ECTS-Punkte für Lehrkräfte geben?
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