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Eine junge Frau mit langen braunen Haaren und spricht mit einem an ihrem Ohr befestigten Mikrofon. Im Hintergrund sieht man zwei Streicher, der Rest ist schwarz.

Trotz Beethovens himmlischer „Cavatina“ geerdet: Luisa Neubauer über die Bedinungen und Konsequenzen eines „Miteinanders“. Foto: Daniel Dittus

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Bechers Bilanz – September 2024: Aus Beethoven jubelt das Leben

Vorspann / Teaser

„Miteinander“ – so lautet das diesjährige Motto des Beethovenfestes Bonn. Wo aber Kunst die Welt verbessern will, gedeihen spöttische Kommentare. Etwa in der „Welt“, wo Jakob Hayner über das Kunstfest Weimar höhnte, dass Demokratie hier nur als „ästhetisches“ Phänomen wahrgenommen werde, nicht als politisches, „das auch Gesellschaftsbereiche ohne Premierenfeiern“ betreffe. Der Vorwurf sitzt.

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Bonn, Beethovenfest: Eröffnungskonzert
Klartext zur Cavatina

Indes muss man anerkennen, dass Intendant Steven Walter mit der Neupositionierung des traditionsreichen Beethovenfestes Ernst macht. Über den Jargon des sich in Partikularinteressen verkämpfenden Zeitgeistes lässt sich hinweglesen. Auf die Inhalte kommt es an, und die ändern sich ebenso nachdrücklich wie die tradierten Rituale. Wo aber Form neu gedacht (und nicht nur verschoben) wird, geraten vertraute Inhalte in neuen Kontext, und der ist in Bonn politisch. Beim Eröffnungskonzert am 6. September spiegelt sich Beethovens Fünfte Symphonie (Kammerakademie Potsdam unter Elim Chan in einer ruppigen, klanglich unausgewogenen Darbietung) in einem kurzen Set der Techno-Marching-Band „Meute“. Energie aus Leerlauf – dieses Konzept riss Beethovens Zeitgenossen ebenso vom Hocker wie heutige Clubbesucher. Man versteht plötzlich wieder, wie viel Leben aus Beethoven hervorjubelt. Der junge georgische, sehr angesagte Pianist Giorgi Gigashvili spielt die Eroica-Variationen mit der gleichen Verve und Genauigkeit, mit der er nach dem Konzert im Foyer Bebop in die Tasten böllert. Vor allem spricht die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, die, begleitet von der „Cavatina“ aus Beethovens Streichquartett op. 130 (Ensemble Resonanz), das Ästhetische ins Politische überführt, dabei vage Hoffnung verbreitet, aber ausreichend Klartext redet. (Einige wenige inhaltliche Ungenauigkeiten wurden in der FAZ minuziös nachgewiesen. Die haben Sorgen …). Dazu passt, dass auch Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner in ihrem Grußwort deutliche Worte zu den Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD findet. Der Coup des Beethovenfestes: Das Konzert wird zeitgleich, aber in umgekehrter Reihenfolge auf dem Münsterplatz bei freiem Eintritt gegeben.

 

Bonn, Beethovenfest: hr-Sinfonieorchester
Uraufführung des Katalanen Ferran Cruixent

Vielleicht haben dann Einige auf dem Münsterplatz beschlossen, drei Wochen später (28. September) das Gastspiel des hr-Sinfonieorchesters unter Ivan Repušić zu besuchen. Der Altersdurchschnitt im Publikum ist jedenfalls deutlich gesunken – ein Zeichen dafür, dass Walter das Beethovenfest tatsächlich verjüngt. Repušić, ab nächster Saison GMD in Leipzig, bringt einen Opener seiner kroatischen Landsfrau Dora Pejačević mit, eine Ouvertüre (1919) zwischen schwelgerischer Spätromantik und zerrissener Zwischenkriegszeit. Es empfiehlt sich ihre fis-moll-Symphonie mit dem hr-Sinfonieorchester auf Youtube anzusehen. In Antonín Dvořáks Achter Symphonie gilt Repušićs Aufmerksamkeit dem Orchester, nicht der Show – leider keine Selbstverständlichkeit. Mit den Frankfurtern präsentiert er feinste Klangkultur, auch wenn die Bläser nicht immer über die Streicher auf dem überbauten Graben in der Bonner Oper hinwegreichen. Im Mittelpunkt steht die Uraufführung von „Trinity“, einem halbstündigen Konzert für Klaviertrio und Orchester von dem katalanischen Komponisten Ferran Cruixent (Jahrgang 1976) mit Beethoven-Anspielungen. In den drei Sätzen (mit traditioneller Charakteristik) öffnet sich eine zusätzliche Klangebene durch Mobiltelefone. Cruixent webt ein dichtes Netz für Orchester und Klaviertrio, mitreißend und faszinierend, aber ohne Tiefe. Das Sitkovetsky-Trio, das auf so elegante Weise Linien gestalten kann, bleibt in dem von ihm in Auftrag gegebenen Werk unter seinen Möglichkeiten. Die Resonanz im Bonner Publikum ist trotzdem euphorisch.
 

Bochum, Ruhrtriennale: Haugtussa
Die Dämonen der jungen Norwegerin

Eine junge Frau im norwegischen Nirgendwo: Veslemøy ist die einzige verbliebene Tochter ihrer Mutter, mit der verstorbenen Schwester hält sie geheime Zwiesprache. Arne Garborg, Vertreter des norwegischen Naturalismus und Propagandist des „Nynorsk“, einer noch heute lebendigen Alternativsprache des Landes, erzählt ihre Geschichte 1885 in einem Gedichtzyklus: Wie sich Veslemøy von der Gesellschaft entfernt, weil sie die Mythen ihrer Heimat wörtlich nimmt, wie sie sich in einen Hollodri verliebt, wie sie sich gebrochenen Herzens in die Natur zurückzieht. Edvard Grieg vertonte die Gedichte, das Nationaltheatret Oslo schuf daraus einen Theaterabend, inszeniert von Regisseurin Eline Arbo: kräftig, humorvoll, zärtlich, berührend. Griegs Melodien verkleiden sich in der musikalischen Einrichtung von Thijs van Vuure schon mal als Elektro-Pop, doch die Lieder bleiben intakt: Mezzosopranist Adrian Angelico und Pianistin Marita Kjetland Rabben sind die herausragenden Interpreten. Lichtstelen durchmessen am 14. September die ganzen 21 Meter Höhe der Jahrhunderthalle in Bochum, verwandeln die Bühne in eine Kathedrale, durch die Kjersti Tveterås in der Hauptrolle tobt. Am Anfang ein Springinsfeld, bald Liebende, dann die Verlassene im Wald. Tveterås’ Bewegungs- und Stimmrepertoire sind enorm. Am Ende beschmutzt das fünfköpfige Ensemble seine weißen, an norwegischer Tracht orientierten Kostüme mit schwarzen Schlieren. Traurig. Man kann das als feministische coming-of-age-Geschichte lesen. Man kann sich aber auch über einen temporeichen Theaterabend freuen, dem nichts fehlt. Der Ruhrtriennale sei es gedankt, dieses Osloer Kleinod aus dem riesigen europäischen Theaterangebot herausgefischt zu haben.

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Ein sehr dunkler Raum. Kein im Hintergrund sind zwei hell erleuchtete Menschen in weißen Gewändern. Hinter ihnen erkennt man schemenhaft ein Haus. Davor ziehen sich vorne von oben herab drei schmale Neon-Lila durch bis sie auf den Boden treffen. Vor einer Stelle läuft eine Frau mit zwei Eimern, ebenfalls weiß gekleidet. Ein Mann steht etwas im Schatten rechts.

Haugtussa in der Inszenierung von Eline Arbo: Vorne bei den Lichtstelen Hauptrolle Kjersti Tveterås mal ruhig, Mezzosopranist Adrian Angelico im Schatten. Foto: Caroline Seidel/Ruhrtriennale 2024 

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Köln: Gürzenich-Orchester unter Matthias Pintscher
Schönbergs Orchesterfarben

Den Jubilaren Schönberg und Nono öffnet sich 2024 nicht jede Tür. Die Ruhrtriennale und Beethovenfest interessieren sich für die beiden gar nicht. Selbst im erfolgreichen Montags-Abonnement des Gürzenich-Orchesters Köln lichtet ein reiner Schönberg-Abend die Reihen. Bei Matthias Pintscher, unter den Komponisten einer der erfolgreichsten Dirigenten, erwartet man angesichts seiner Nähe zu Frankreich impressionistische Delikatesse. Stattdessen modelliert er aus den Orchesterstücken op. 16 die vielen prägnanten Figuren heraus, selbst im legendären dritten Stück, „Farben“, einem einmaligen Klang-Experiment des Wiener Komponisten. In der Tondichtung „Pelleas und Melisande“ konzentriert sich Pintscher auf die Spannungsbögen. Das ständige Unter- und Übereinander der zwei Dutzend Leitmotive, vor dem schon Schönbergs Freund Alexander Zemlinsky warnte, ist ohnehin nicht in den Griff zu kriegen, bleibt aber am 23. September in der gläsernen Akustik der Kölner Philharmonie immer gut durchhörbar. Und im letzten Drittel schenkt uns Schönberg noch eine Perle musikalischen Jugendstils, aufgewertet durch vier Harfen im Orchester. Seine Fantasie im Umgang mit den vielfältigen Orchesterfarben verdient Bewunderung. Kaum jemals zu hören ist die Umwandlung eines Concerto grossos von Georg Friedrich Händel in ein Konzert für Streichquartett und Orchester, wobei Schönberg 1933 derart weitreichende Eingriffe vornahm, dass er es als Werk eigenen Anspruchs ansah. Harmonik und Melodik sind noch Händel, aber Schönbergs Kontrapunktik leuchtet grell ins Herz des Originals. Das Quatuor Diotima interpretiert das Werk mit fiebriger Leidenschaft.
 

Köln: Montagskonzert der Musikfabrik
Ein bisschen Nono, immerhin

Angesichts der zu wenigen Aufführungen mit Musik von Luigi Nono im Jahr seines 100. Geburtstages beschleicht mich die Sorge, der italienische Komponist könnte – wie zuvor schon Giacinto Scelsi, Bruno Maderna und Franco Donatoni – allmählich aus dem Musikleben verschwinden. Immerhin: Reiselustige konnten „Prometeo“ in Venedig erleben, „Il canto sospeso“ in Salzburg (mit dem ORF Radiosymphonieorchester Wien, klug kombiniert mit „Il prigioniero“ von seinem Lehrer Luigi Dallapiccola, noch zu finden in der arte-Mediathek) und „Como una ola de fuerza y luz“ in Berlin. In Köln genügen zwei kleine Nonos, um im Montagskonzert des Ensemble Musikfabrik am 16. September die Stuhlreihen zu füllen. Benjamin Kobler spielt das Klavier-Tonband-Duett „… sofferte onde serene …“ aus dem Jahre 1976, das erste Stück aus Nonos letzter Schaffensphase. Hier öffnet sich erstmals ein Raum zum Nachhören, kulminierend im wenige Jahre später geschriebenen Streichquartett. Im kompakten Probenraum der Musikfabrik im Kölner Mediapark punktet der Pianist mit praller Präsenz. Niemand sitzt weiter als zehn Meter von ihm entfernt. Sein Spiel verschmilzt zwar auch mit dem Maurizio Pollinis auf dem Band, poltert aber mit Clustern und motivisch wiederkehrenden Repetitions-Kaskaden in den Vordergrund. Selten habe ich das Stück so handfest gehört. Andere Werke des Abends, in denen sich Soloinstrumente und Tonband und/oder Live-Elektronik begegnen, kredenzen erlesene Klangmenus, in denen die Töne verkocht sind. So wie in Nonos „A Pierre. Dell’azzurro silenzio, inquietum“, wo sich Helen Bledsoe (Bassflöte) und Carl Rosman (Kontrabassklarinette) ein melancholisches piano-Klangband produzieren. Ob es eine kleine Boshaftigkeit war, dass der Italiener dieses Stück seinem Freund Pierre Boulez zum Sechziger widmete?

 

Köln: WDR Sinfonieorchester unter Anja Bihlmaier
Mendelssohn aus Strawinskys Perspektive

„Schwerelos“ hat das WDR Sinfonieorchester das Programm genannt, mit dem Anja Bihlmaier am 27. September beim Orchester gastiert, und den erdenschwersten Komponisten aller Zeiten aufs Programm gesetzt: Jean Sibelius mit seiner Ersten Symphonie, die umso besser klingt, je weniger Instrumente involviert sind. Am besten gleich zu Beginn, den eine einsame verträumte Klarinette zu dunklem Paukengeraune gestaltet (herausragend: Soloklarinettist Lewin Kneisel). Die deutsche Dirigentin mit Chefposition in Den Haag und seit Neuestem Erste Gastdirigentin beim BBC Philharmonic Orchestra hält einen großen Spannungsbogen, der nie abfällt, auch zwischen den Sätzen nicht. Sie lässt weniger Melodien als Energieschübe aufeinander folgen, noch in den Ruhephasen bereitet sie die nächste Kraftentfaltung vor. „Schwerelos“ aber beginnt der Abend mit Igor Strawinskys klein besetztem „Dumbarton Oaks“, den die Bläser im Stehen spielen. So federn die tänzerischen Bewegungen Bihlmaiers in den Musikerinnen und Musikern weiter: unterkühlte, aber beschwingte und graziöse Musik. Mendelssohns Violinkonzert hört sich nach diesem Entrée luftiger an, als es komponiert wurde. Die russische Geigerin Alina Ibragimova steht für eine zupackende, rhythmisch und intonatorisch sehr präzise Interpretation mit feinem Bogenstrich statt virtuoser Pranke. Auch sie denkt Mendelssohn eher von Strawinsky als von Tschaikowsky her. Das Publikum der gut besuchten Kölner Philharmonie dankt mit begeistertem Applaus.