Der hierzulande aus Gründen politischer Unkorrektheit nicht gelesene amerikanische Autor Samuel Huntington hat 2004 in seinem letzten Buch „Who Are We?“ festgestellt, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Ideologien war, während das 21. eines der Religion werden könnte. Er untermauert seine These mit weltweiten statistischen Erhebungen, die einen globalen Trend in diese Richtung ausmachen. Mit einer Ausnahme: Westeuropa, das sich auf klarem Säkularisationskurs befindet.
Dass diese vermeintliche Insel der Aufklärung längst zu einem wackeligen Terrain geworden ist, hat man bei den Reaktionen auf die Krawalle, die in den muslimischen Staaten durch ein läppisches Internet-Video ausgelöst wurden, nun wieder einmal gesehen. Die Vernunft, in deren Namen einst Religion und Obrigkeitsdenken kritisiert wurden, wird bei uns nun bemüht, um sich dem Druck der brüllenden Massen zu beugen, die sich unter Berufung auf ihren Allah einer gigantischen Triebabfuhr hingeben. Das letzte Mal in der Geschichte passierte das vor 1939 mit den Nazihorden, vor denen damals ganz Europa zurückzuckte. Auch heute zieht man wieder den Schwanz ein, und regierungsamtlich wird eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung, erwogen, um die Fanatiker nicht „unnötig zu provozieren“. Appeasement hieß das zu Hitlers Zeiten, und so heißt es wohl noch heute.
Nun geht es nicht darum, Geschmacklosigkeiten, die sich unter dem Mantel der Kunst- oder Meinungsfreiheit verstecken, gut zu finden oder den arroganten Provokationen gegenüber irgendwelchen Glaubensrichtungen grinsend Beifall zu spenden. Doch man kann das auch nicht verbieten, selbst wenn es mancher Innenminister gern täte. Diese Art von pseudoaufklärerischer Trashkultur, die im permissiven Klima der Nach-68er-Ära groß geworden ist, gehört leider zu den Begleiterscheinungen der Freiheit, unvermeidbar wie der Müll nach dem Popkonzert, und wer sie verbietet, macht den ers-ten Schritt in den Überwachungsstaat.
Wie also sollte man sich verhalten in Westeuropa, diesem Hort der Aufklärung? Vermutlich befinden wir uns in derselben Situation wie beim Euro: Jeder Schritt führt zu Nachteilen – was man auch tut, man wird so oder so zur Kasse gebeten werden. Da nützt auch der schlaue Verweis nichts, der Volkszorn der Muslime ziele ja vor allem auf die bösen Amis. Unsere westliche Zivilisation steht als Ganzes zur Debatte. Jahrzehntelang haben wir gerade in Westeuropa finanziell und kulturell in Saus und Braus gelebt und uns rücksichtslos als Individuen „selbstverwirklicht“. Doch nun, da Europa ökonomisch einknickt, meldet sich die Realität zu Wort, und die Schwächen dieses materialistisch entgleisten Aufklärungsbegriffs werden gnadenlos sichtbar.
Die Quittung kommt in Form von bedrohlich formulierten Fragen auf den Tisch. Eine davon lautet: Können wir die moralischen Forderungen, die von anderen Religionen mit teils gewalttätigem Nachdruck an unser aufgeklärtes Gewissen gestellt werden, noch einlösen, oder haben wir in den letzten Jahrzehnten vielleicht auch geistig mit spekulativen Werten gedealt, die sich nun plötzlich als Schrottpapiere erweisen? Der stupide Reflex der Religionsfanatiker einmal beiseite: Welchen Wert haben Mohammed-Karikaturen, Pussy-Riot-Aktionen oder Filme wie „Life of Brian“ eigentlich für uns? Beantworten sie uns auch nur eine der bedrängenden Fragen der Gegenwart?
Die „Financial Times Deutschland“ kam neulich mit einer satirischen Anzeige auf der Titelseite heraus, in der ein fiktiver Religionsbeauftragter vor der Lektüre der Zeitung wegen möglicher religionskritischer Inhalte warnte. Angesichts des grassierenden Opportunismus‘ wäre eine andere Anzeige vielleicht passender: „Der Religionsbeauftragte empfiehlt aus Sicherheitsgründen, religiöse Schmähungen auf das christliche Glaubensbekenntnis zu beschränken.“ Damit bliebe die Ruhe im Obrigkeitsstaat gewahrt, und die intellektuellen Wichtigtuer könnten ihrem Geschäft der Scheinkritik nachgehen wie bisher.