Es ist nicht ganz selbstverständlich, dass Helmut Lachenmann zu seinem Siebzigsten in diesem Jahr so ausgiebig gefeiert wird. Bei den europäischen Festivals wird er von einem Ort zum andern weitergereicht, und es sieht fast ein wenig so aus, als ob die Veranstalter, die ihm, von wenigen Ausnahmen abgesehen, früher mit wohlwollender Skepsis oder sogar ablehnend gegenüberstanden, nun das Fell des Bären unter sich aufteilen möchten.
Im Lachenmann-Boom dieses Jahres zeigt eine Verschiebung in der Rezeption dieses Komponisten, dessen Oeuvre als Inbegriff des Schwierigen und Verstörenden gilt und in der Vergangenheit oft genug Gegenstand aggressiver Ablehnung war. Dass ihn der Musikbetrieb heute so dienstbeflissen an die Brust drückt, liegt vermutlich weniger im subtilen Wandel seiner Schreibweise als vielmehr in einer Veränderung der allgemeinen Voraussetzungen der Rezeption, das heißt: im Zeitgeist.
Darin zeigt sich das klassische Avantgarde-Dilemma, das sein historisches Modell im frühen 20. Jahrhundert bei Schönberg hat: Das Neue kann sich nur im abgeschirmten Raum entfalten, beschützt und gefördert von einer verschworenen Gemeinschaft, die jahrelang dafür kämpft, es gegen eine ignorante Öffentlichkeit durchzusetzen.
Doch wenn in diesem Prozess einmal ein gewisser Punkt erreicht wird, droht den Vorkämpfern die Kontrolle über ihren Gegenstand zu entgleiten. Je häufiger die ersehnte Anerkennung eintritt, desto mehr setzt sich das Werk auch den Deutungen Außenstehender aus. Die kenntnisreichen Insider verlieren schrittweise die Diskurshoheit. Der Streit um das „richtige Verständnis“ hebt an. Das war bei Schönberg spätestens dann der Fall, als Karajan seine Orchestervariationen dirigierte, das war auch bei Nono nach seinem Tod der Fall, als etwa Robert Wilson in Brüssel den „Prometeo“ inszenierte und alle möglichen Interpreten begannen, sich auf sehr pragmatische, ja profane Weise seiner Werke mit Live-Elektronik zu bemächtigen.
Bei Helmut Lachenmann setzt dieser Prozess schon zu Lebzeiten ein. Das bei den berufenen Nono-Adepten viel gehörte Argument „Der Tschitschi hat aber gesagt“ ist in diesem Fall überflüssig, da man ja den Helmut selbst befragen kann und er überdies seine Poetik sehr genau in seinen Schriften festgehalten hat. Gravierende Mehrdeutigkeiten der Notation wie bei Nono gibt es bei ihm ohnehin nicht. Ein zentraler Punkt kommender Auseinandersetzungen um Lachenmanns Musik wird aber eine inhaltliche Frage betreffen, genauer: die gesellschaftlich-politische Bewertung seiner Musik. Da scheiden sich jetzt schon die Geister.
Helmut Lachenmanns Musik ist in gewisser Hinsicht repräsentativ für die alte Bundesrepublik. Seine kompositorischen Denkmodelle bildeten sich im Wesentlichen vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung heraus. Auch wenn er deren kunstfeindliche Dummheiten nie mitmachte: Die institutionskritischen Impulse, der Topos der „Brüchigkeit“ und sein auf Adorno fußendes, dialektisches Traditionsverständnis sind Elemente einer negativen Ästhetik, die nur vor diesem Hintergrund denkbar sind.
Damit identifizierten sich in der Folge jene Teile der kritischen bundesdeutschen Intelligenz, deren Hörbedürfnisse über den Konsum von Rockmusik hinausreichten.
Es gereicht dieser Schicht zur Ehre, dass sie die Qualitäten von Lachenmanns Musik erkannte und gegen den Mainstream durchzusetzen versuchte. Den Bemühungen haftet aber inzwischen ein seltsamer Beigeschmack an. Mit fortschreitender Akademisierung der 68er-Bewegung wurden Werk und Person Lachenmanns zu einer Projektionswand einer verbeamteten Intelligenz, die in seinen Partituren ein Äquivalent zu ihrem merkwürdigen Begriff von Revolution suchte. Das Gerede von „Verweigerungsästhetik“ und „Widerstand“ (wogegen eigentlich? Gegen „den Kapitalismus“? Da lacht Lachenmann.) ist inzwischen verstummt.
Als letzter Strohhalm bietet sich noch die Figur der Gudrun Ensslin im „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an. Was beim Komponisten den Charakter einer allerpersönlichsten Auseinandersetzung hat, soll zum Bausteinchen einer Robin-Hood-Legende vom missverstandenen Terroristen umgedeutet werden: Romantische Revoluzzerträume wohlbestallter Staatsdiener, die zum Zeichen ihrer fortschrittlichen Gesinnung Fahrrad fahren und ihre Honorare aus dem Nebenverdienst in Windkraft investieren.
Doch die 68er-Mentalität kommt inzwischen ins Pensionsalter, ihre ökonomische Basis, die gute alte BRD, gibt es nicht mehr. Die wichtigen geistigen Auseinandersetzungen spielen sich heute nicht mehr auf dem gut abgezäunten Feld der deutschen Nachkriegsgeschichte ab. Nur haben es viele noch nicht gemerkt.
Damit werden auch die alten Deutungsmuster, Lachenmanns Musik betreffend, zunehmend brüchig. Er selbst hat die Veränderungen, wie die hellhörigeren seiner Kollegen auch, schon vor über einem Jahrzehnt gespürt und künstlerisch darauf reagiert. Der Horizont seiner Fragestellungen hat sich erweitert, seine Antwortversuche sind selbst wieder neue Fragen. Darauf sollte die Kritik reagieren. Ansonsten landet sie im bundesdeutschen Geschichtsmuseum neben Kohl, Brandt und Habermas.