Man muss ja doch staunen, wie wenig die Finanzkrise an den Fundamenten des gesellschaftlichen Lebens verändert. Nein, es ist nicht etwa so, dass sie folgenlos wäre; das Gegenteil ist der Fall, die knappen Kassen werden sich wohl weiter leeren und die Bewältigungsweise der Volksvertreter und Gesetzgeber scheint momentan eher darauf angelegt, den Verursacher der Krise, die defekte Geldwirtschaft, soweit zu reparieren, dass sie weitgehend unbeschadet aus dem selbstverschuldeten Dilemma aufsteigt. Der Versager soll notoperativ gerettet werden. Ausbaden dürfen das die ganz gewöhnlichen Menschen, denen so viel finanzielle Liebe des Wohltäters Staat gewöhnlich nicht zuteil wird. Die Gesellschaft von Menschen hat abgedankt zugunsten einer unter dem Diktat einer selbstverliebten Ökonomie. Die war freilich auch schon zuvor kräftig am Wirbeln.
Zu den neuen politischen Majestäten zählen aber auch die McKinseys und PISA-Organe oder die mit dem Bologna-Prozess verknüpften Organisationen. Auch hier hat eine rationale und vernünftige Politik abgedankt und dem allesvergleichenden und nivellierenden Ökonomismus das Feld überlassen (müssen?). Die Individuen sind rückgebaut auf kleinste ökonomische Einheiten, die jetzt bitte nur noch genau so zu handeln haben als wären sie nur das und bloß nicht mehr oder Anderes. Jeder ist sich selbst der Nächste und hat den Anpassungstanz auszuführen. An die Form muss man sich anpassen, unabhängig davon, ob die Inhalte etwas bedeuten.
Das ganze Heer der Menschen muss sich dem Wettbewerb stellen, am besten multifunktional, sei als Patchwork-Existenz oder gewitztes Pokerface. Die Ich-AG wird zum individuellen Globalplayer umgebaut, der formvollendet als Selbstdarsteller keine Inhalte repräsentiert außer eben die Kunst der Präsentation um ihrer selbst willen. So zu sehen im Abbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, so zu sehen in der Produktion von qualitätskontrollierten aber menschlich entkernten Schülern und Studenten, so zu sehen im klassischen Journalismus und in den Netzkulturen.
Patchwork-Existenzen generieren Patch-work-Kulturen und umgekehrt. Was Kindern mit dem G8-Schulsystem angetan wird und mit zentral geregelten Lernstoffen, ist in Wirklichkeit Körperverletzung unter der scheinheiligen Ideologie einer Gleichmacherei, die nichts von den bürgerschaftlichen Errungenschaften wirklich in sich birgt. Totale Vergleichbarkeit wird Gewalt. Schon über 50 Prozent der Schulpflichtigen leiden unter chronischen Gesundheitsbeschwerden, schrieb der Psychiater Joachim Bauer.
Wollen wir uns das wirklich bieten lassen? Wollen wir unsere Kultur und unser Leben von denen diktieren lassen, die das aktuelle Schlamassel verursacht haben und selbst so kläglich immer wieder aufs Neue versagen? Menschsein heißt doch vielmehr die Anerkennung des Anderen und seiner Andersheit, nicht seine Selektion durch ökonomisch vermessenes Vermessen. Oder etwa nicht?