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Cluster 2012/04 - 1

Untertitel
Haarakiri
Publikationsdatum
Body

„Potztausend!“, entfuhr es mir, als ich jüngst am Friseursalon CUT:JA vorüberflanierte. Ein heikler Fall für die Wortspielpolizei, ganz ähnlich wie Hairzblut oder, dem Essener Museum Folkwang schräg gegenüber: Kopfarbeit. Auf einer vorbildlich sinnentleerten Website fand ich dutzende weitere Beispiele – darunter auch: Haarakiri. Dies veranlasste mich, mal wieder über Haare nachzudenken.

So, wie es Nicolaus A. Huber seinen Studentinnen und Studenten einst auftrug, als er uns in einer Analysestunde an­sphinxte: „Lernen Sie von Haaren! Die gehören zu einem, benehmen sich aber manchmal nicht so.“ 

Seit bald zehn Jahren rätsele ich daran herum – und bin noch nicht weit gekommen, zumal mich das Nachdenken über (die eigenen) Haare in letzter Zeit eher traurig stimmt. Ich fragte also einige ehemalige Veteranen, die in ihrer Haartheorie längst weiter sind als ich. 

Daher, zusammengefasst, einige Ergebnisse: 

Martin Schüttler vermutet, das Verhältnis Haar zur Frisur entspräche in etwa dem Verhältnis von Individuum und Masse, oder aber es beschreibe die Rolle des Künstlers zur Gesellschaft. 

Robin Hoffmann erfreut sich hingegen an der Tatsache, dass aufgrund seiner ohnehin zu einer gewissen Reduktion tendierenden Frisur es niemand bemerke, wenn noch mehr fehle – ganz im Gegensatz zu Falten. Auch Sagardía denkt eher an die Haarprothese, wenn er schreibt: „Der Streicherapparat ist das Toupet des modernen Orchesters.“ Roman Pfeifer brachte die „unaufgeregte Widerspenstigkeit des Haars gegenüber der intendierten Frisur“ ins Spiel und gemahnte an Adornos „Verfransung der Künste“, während Hannes Seidls beeindruckende Haartheorie unter anderem die Zombiehaftigkeit jener keratinhaltigen Hornfäden herausstellt: „Haare sind zwar Teil des Körpers, aber einmal aus der Haut herausgewachsen, nicht weiter kontrollierbar – weder bewusst noch unbewusst. Sie sind Untote, spüren keinen Schmerz, wenn man sie abschneidet, unterliegen keinem Willen, aber sie wachsen auch dann noch, wenn der Rest des Körpers tot ist.“ Vielleicht, so denke ich, muss man als Künstler auch ein bisschen wie ein Haar sein. Zuweilen die volle Pracht vortäuschen und trotzdem insgeheim immer dort wachsen, wo es dem Wirt ganz und gar nicht gefällt. Manchmal vereinsamt, manchmal im Rudel, aber immer struppig. Wie auch immer: Haare haben es verdient, so viel steht fest, ins Zentrum ästhetischer Diskussion vorzudringen! Danach denken wir über Zitteraale und Mettigel nach.

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