Immer wieder entbrennt sie aufs Neue, die Frage „Was ist Jazz?“ Beobachtet man diese Diskurse über einen längeren Zeitraum, dann wird schnell klar: Diese Frage muss jede Generation wieder aufs Neue für sich beantworten. Lassen wir die Diskussionen in den Vereinigten Staaten einmal außen vor, wo cultural appropriation von Black Music durch Weiße Musiker und Weiße Musikindustrie seit jeher ein heißes Eisen war und ist, und konzentrieren wir uns auf den deutschsprachigen Jazzraum.
Unruhe gibt es derzeit in Leipzig, wo anlässlich der Programmgestaltung der 45. Leipziger Jazztage eine Fraktion von Wut-Jazzern protestierend an die Öffentlichkeit ging und den jungen Festivalmacherinnen aus dem Jazzclub Leipzig vorwarf, „ins Verkaufstraining“ für „blue notes“ eingestiegen zu sein und die wahre Tradition der Leipziger Jazztage hinter sich gelassen zu haben, nämlich „weltbewegt, freiheitlich, ungängelbar, eben nonkonformistisch zu sein. Wie Jazz sich gehört.“
Diesen Generationenkonflikt versteht man nur mit einem gewissen historischen Bewusstsein. Die 1976 gegründeten Jazztage hatten in der ehemaligen DDR eine Art Leuchtturmfunktion. Nur dort konnte man im auch kulturell streng reglementierten Staat die internationale Jazzwelt kennenlernen. Gleichzeitig waren die Jazztage das Podium des avancierten DDR-Jazz, der an große Namen wie Conny Bauer, Hannes Zerbe, Joe Sachse, Ulrich Gumpert, Günter „Baby“ Sommer, Ernst- Ludwig Petrowsky, Uschi Brüning sowie die Brüder Rolf und Joachim Kühn geknüpft war. Nach der Wende trug die kluge Programmpolitik des Musikpublizisten und künstlerischen Leiters Bert Noglik dafür Sorge, dass aus den Jazztagen kein Gemischtwarenladen wurde, der sich nur marktkonform aus den Tourplänen durchreisender internationaler Künstler bediente.
Den ostalgischen Kritikern zum Trotz, ihre Haltung gegen den Strich haben sich das Jazztage bis zu ihrer jetzigen, der 45. Ausgabe bewahrt – und dennoch fühlen sich vermutlich die, die mit der Tradition gehen, an den Rand gedrängt, ausgebootet und einfach nicht mehr heimisch in den vielen neuen Spielstätten, unter den vielen jungen Namen. Und sie können mit einem neuen Leipziger Jazzbegriff nicht viel anfangen, der darin kulminiert, dass die Co-Leiterin Esther Weickel im Interview gegenüber der taz räsonierte, sie wisse gar nicht, wie sie Jazz definieren solle. Was eher demütig und respektvoll gegenüber der großen Stilvielfalt der eingeladenen Musiker gemeint war, kam bei vielen schlecht an. Man will den Jazz eben „wie er sich gehört“. Wie aber gehört sich Jazz? Global, divers, couloured, free oder swingend? Der Begriff Jazz ist mit vielen Etiketten versehen, mit vielen Stereotypen verbandelt. Dazu kann die Hautfarbe gehören oder die Nationalität – wie viele deutsche Jazzer holten und holen sich amerikanische Stars in ihr Trio oder Quartett, um „authentischen Jazz“ zu machen? Jazz war jahrzehntelang gleichbedeutend mit männlich, erst langsam geben auch hier immer mehr Frauen den Ton an. Gerade auch in Leipzig übrigens.
Zum Jazz gehören auch stereotype Besetzungen wie Quartett, Trio, Big Band oder bestimmte Instrumente wie Saxophon und Schlagzeug. Nicht zu vergessen ist die große Kunst der Improvisation – nehmen wir das Stichwort Improvisation als paradigmatisch: Unser Foto zeigt das Duo Thomas Lehn (analoger Synthesizer und Computer) und Marcus Schmickler (Computer) bei der Jazznacht JAZZ NOW der Donaueschinger Musiktage. Zwei Laptops, ein analoges Mischpult, keine Standards, keine Blue Notes. Minimalistisch. Um die Jazz-Verwirrung auf die Spitze zu treiben: Auf dem Programm stand die Uraufführung „Neues Werk“ – konnte man hier dem Experiment „Einführung des Werkbegriffs in die Jazzmusik“ beiwohnen?
Obwohl oder vielleicht auch weil der Jazz ästhetisch mäandert wie nie, und sich an eine ganz neue, vielfältige Hörerschaft wendet, bekommt er inzwischen Beachtung von kulturpolitischer Seite. Das ist vor allem das Verdienst der Jazzverbände und -Initiativen, allen voran die Bundeskonferenz Jazz und die Deutsche Jazzunion, die jahrelange zähe Lobbyarbeit in Berlin geleistet haben. Mit Erfolg: Erst 2020 wurde zusätzlich eine Million aus Bundesfördermitteln für die Jazzsparte bereitgestellt, die wie keine zweite ein Betätigungsfeld des sogenannten soloselbständigen Künstlers ist.
Die erste Preisvergabe durch Kulturstaatsministerin Monika Grütters fand im Juni dieses Jahres statt: „Mit dieser Auszeichnung werden wir die Vielfalt, Kreativität und kommunikative Kraft des Jazz ins verdiente Rampenlicht rücken und herausragende künstlerische Leistungen mit dotierten Preisen würdigen. Die Jazzmusikszene baut seit jeher klingende Brücken zwischen unterschiedlichen Kulturen, sie steht für Mut, Austausch, Kooperation – und ist damit auch ein Spiegelbild unserer pluralistischen Gesellschaft. Genau diese Weltoffenheit wollen wir in Zukunft weiter unterstützen“, so heißt es aus dem Hause Grütters.
Die digitale Verleihung fand im Vorfeld des in diesem Jahr ebenfalls digital umgesetzten Hamburger Festivals ELBJAZZ statt und wurde via Livestream übertragen. Neben einem Standort in Hamburg waren die Jazzclubs A-Trane (Berlin), Unterfahrt (München) und Ella & Louis (Mannheim) als weitere Verleihungsorte Bestandteil der Preisverleihung. Aus diesen vier Locations wurden die Preisträger-Galas live übertragen. Eine kostspielige Sache: 31 Preisträger erhielten summa summarum 310.000 Euro Preisgelder – der Restbetrag von zirka 690.000 Euro ging in Overheadkosten, einmalige Initialkosten in den Bereichen Design und Kommunikation sowie für die Produktion der Galaveranstaltungen ein – auch eine Art von Strukturförderung der Kreativwirtschaft.
Preisausgeber ist die Initiative Musik, mit der das Haus Grütters bereits den erfolgreichen Spielstättenförderpreis „Applaus“ aufgesetzt hat. Dort will man es 2022 weniger aufwändig machen und konzentriert sich auf den Standort Jazzahead in Bremen, wo man auf die professionelle Struktur der dann 16 Jahre alten Jazzmesse aufsetzen kann. Am 27. April 2022, dem Vorabend der Jazzahead 2022, heißt es dann wieder: „And the Winner is…“ Man darf gespannt sein, wie der Millionenkuchen dieses Mal verteilt wird.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist zu begrüßen, dass die Staatsministerin hier die Initiative ergriffen hat, um mit dem Deutschen Jazzpreis einen Leuchtturm mitten in die vielfältige Preislandschaft in Deutschland zu setzen. Arrivierte Jazzpreise wie der Albert Mangelsdorff Preis – der seinen bisherigen Titel Deutscher Jazzpreis abgeben musste – der Neue Deutsche Jazzpreis aus Mannheim, die Jazzpreise der ARD Anstalten und auch private Initiativen wie der BMW Welt Jazz Award oder die German Jazz Trophy der Sparda Bank Baden-Württemberg, die alle Summen zwischen 10.000 und 15.000 Euro jährlich ausschütten, werden deshalb nicht minder wahrgenommen. Zudem garantieren sie durch unterschiedliche Bewerbungsverfahren, Kriterien und Nominierungsmodalitäten eine pluralistische Vielfalt bei der Möglichkeit, Jazzmusiker für ihre Arbeit zu ehren – mal ganz am Beginn der Karriere, wo Förderung ganz besonders wichtig ist, oder fürs Lebenswerk: Bekanntermaßen fällt bei Jazzmusiker*innen künstlerischer Erfolg nicht immer mit pekuniärem zusammen.
Ein Fazit? Das kann man bei einer Jazzkolumne nur in bestem Denglish ziehen: Don‘t call it Jazz, call it Music oder besser: Straight Ahead Jazz – das war gestern.