Gesangsstudenten und Kompositionsstudenten haben eines gemeinsam: Sie gehören zu den Fächern an einer Musikhochschule, die am meisten von einer Beurteilung von außen abhängig sind.
Sänger können sich selbst nie so hören wie andere sie wahrnehmen (das weiß jeder, dem die eigene Stimme in einer Aufnahme erst einmal fremd vorkommt) und sind daher angewiesen auf die Ratschläge des Lehrers. Das ist ein Unterschied zu Pianisten oder Geigern, die im Grunde dasselbe hören wie die Zuhörer, nur eben aus der Nähe.
Komponisten wiederum sind immer wieder mit der Unmöglichkeit konfrontiert, das eigene Stück zum ersten Mal zu hören. Wenn man alles selbst erfunden hat, ist es schwierig, die dahinterstehenden Gedankenprozesse wieder vollkommen zu vergessen. Es ist auch nicht leicht, sich selbst zu überraschen. Man hört als Komponist die eigene Musik immer wissend, mit erhöhtem Blick auf Details und Dinge, die der Hörer meistens gar nicht bemerkt oder die auch gar nicht das Entscheidende sind, was sich vermittelt. Das „jungfräuliche Hören“ ist tatsächlich eine Technik, die man mühsam erlernen muss: Erst mit fortgeschrittenem Komponistenalter hört man seine früheren Werke mit einigem Abstand wie „zum ersten Mal“ und kann daraus verspätet Schlüsse ziehen.
Daher überrascht es auch nicht, dass es gerade bei jungen Komponisten eine große Diskrepanz zwischen Wollen und Wirken gibt. Manchmal höre ich als Lehrer lange Vorträge darüber, was der Student sich beim Stück XY gedacht hat, das er mir gerade präsentiert – herausgekommen ist aber etwas völlig anderes. Oft ist dieses Andere vielleicht sogar interessanter als der ursprüngliche Plan. Da will einer komplexe Polyphonie schreiben, herausgekommen ist aber eine reine Klangstudie. Ein anderer bildet sich viel auf seine Melodik ein, schreibt aber in Wirklichkeit vor allem harmonisch.
Kompositionsstudenten spüren diese Ungewissheit sehr stark und sind daher – genau wie Sänger auch – sensible Geschöpfe. Anders als Sänger, sind Komponisten aber meistens eher introvertiert als extrovertiert, was die Sache ein bisschen schwieriger macht.
Sehr oft habe ich beim Unterricht das Gefühl, dass jedes falsche Wort eine Krise zur Folge haben könnte. Diese Verantwortung nehme ich nicht leicht, da ich mich selbst an die vielen Stunden erinnere, in denen ich völlig ausgeliefert an den Lippen meiner Lehrer hing. Die Studenten sind abhängig von einer Beurteilung von außen, da ihnen noch jegliches Gefühl für die eigene Qualität fehlt. Lobt man sie über alle Maßen, schickt man sie auf einen falschen Weg der Eitelkeit und Selbstüberschätzung; kritisiert man sie zu sehr, stürzt man sie in lähmende Verzweiflung. An die heilende Wirkung der letzteren Methode glauben einige, aber ich persönlich finde, dass von außen künstlich herbeigeführte Krisen eher einengen als befreien. Letztlich geht es ja beim Komponieren darum, den unverwechselbaren eigenen Ton zu finden, und der kommt nicht herbei, wenn man ständig in die Schranken gewiesen wird. Also eher: Motivation durch Stärkung dessen, was gut ist.
Eine Kompositionsstunde ist für mich oft wie ein Detektivspiel: Es geht darum, in der vorliegenden Partitur das zu entdecken, was das „Eigene“ des Studenten darstellt. Das versuche ich durch Affirmation zu bestärken. Danach ist es dann wesentlich leichter, über das zu sprechen, was noch nicht so gelungen ist, nach der altbewährten Methode „erst das Lob, dann der Tadel“. Dies alles in der Hoffnung, dass die zunehmende Entdeckung des eigenen Tons den Studenten dazu bringen wird, die noch vorhandenen Schwächen zu überwinden. Nicht anders übrigens war es bei den Komponisten der Vergangenheit, und daher suchen die meisten Kompositionsstudenten auch in Komponistenbiografien Trost und Stärkung für die eigenen Dilemmata.
Was man ihnen aber auch als Lehrer vermitteln muss: Das ständige Zweifeln an sich selbst hört nicht auf. Es gehört dazu.