Pädagogen und Psychologen sind sich zumindest in einem einig: Wie wichtig es ist, Realität und Fiktion auseinanderhalten zu können. Wer das nicht kann, wer in seiner Scheinwelt lebt statt in der wirklichen, wird in seinem Leben Schiffbruch erleiden oder, noch schlimmer, über kurz oder lang in der Psychiatrie landen. Wie aber steht es um einen Kultur- und Politikbetrieb, deren Protagonisten sich zunehmend von ihren Wünschen und Wunden leiten lassen, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt?
Gerhard Stadelmaier zum Beispiel, wortgewaltiger FAZ-Kritiker und schon Held der letzten „Gegengift“-Kolumne, weiß nichts von Guantanamo und Abu Ghraib, von den Millionen Toten in Ruanda, im Kongo oder im Sudan, von den tagtäglichen Entsetzlichkeiten eines diffusen Weltbürgerkriegs. Für ihn findet das „große Massakerspiel“ auf einer Nebenbühne des Frankfurter Schauspiels statt. Das Grauen hat ein Schauspielergesicht und einen Namen, Thomas Lawinky, der zumindest von den Gehaltslisten gestrichen werden muss. Und was ihm passiert ist, nennt die „Frankfurter Allgemeine“ in gutbürgerlichem Understatement auf ihrer Titelseite einen „Anschlag“. Wer daraufhin um Leben und Gesundheit Stadelmaiers fürchtet, wer vor seinem geistigen Auge schon Blut fließen sieht, den wird die Frontberichterstattung auf der ersten Feuilleton-Seite beruhigen. Alles nur Theater! Und auch der Theaterkritiker wurde nicht leibhaftig zerfetzt, es wurde ihm nur ein Stoffschwan in den Schoß gelegt und eine schreibende Phantasieleistung abverlangt („Schreib, dass es ein schönes Kind ist“) und, als er sich so gar nicht rühren wollte, der Schreibblock kurz aus der Hand genommen. Lawinky: „Mal sehen, was der Kerl geschrieben hat.“ Stadelmaier, noch im Rückblick schaudernd: „Ich hätte mich verletzen können.“ Es handelte sich nämlich um einen Spiralblock, bekanntlich eine gefährliche Waffe. Was den divenhaft seine Theaterbastion räumenden Kritiker besonders empörte, war der „Nachruf“, den ihm Lawinky gönnte: „Hau ab. Verpiss Dich, Du Arsch.“ Was draußen vor der Theatertür eine Beleidigung sein mag, drinnen aber, vom frühen Peter Handke („Publikumsbeschimpfung“) bis zum späten Thomas Bernhard schlicht zum Repertoire gehört.
Was Stadelmaier offenbar nicht begreifen kann oder will: dass Stoffschwäne und böse Worte auch dem Publikum gegenüber zum spätestens von Artaud gründlich entrümpelten Theaterfundus gehören – eine Krone auf der Bühne ist keine wirkliche Krone und ein „Arsch“ aus Schauspielermund kein wirklicher Arsch – während ein entlassener Schauspieler wirklich auf der Straße steht, wenn ihn nicht das „große Massakerspiel“ der Presse unversehens zum Helden macht: die Version eines Ionesco-Stücks, die jetzt keine mehr sein darf, weil die Rechteinhaber protestieren, heißt jetzt „Being Lawinky“ und Claus Peymann, der Chef des traditionsreichen Berliner Ensembles, der sich selber gern im Heldenfach sieht, gewährt ihm „Asyl“. Das ist dann gewissermaßen das Satyrspiel zur FAZ-Posse, in der die Pressefreiheit bedroht ist, weil der Kritiker, seiner Macht-Insignien beraubt, kurz nicht mitschreiben konnte.
Kinder, die katastrophenselige Kulturkritiker gern in Gefahr sehen, wenn sie vorm Bildschirm hocken statt mit „Freunden“ zu spielen, wissen üblicherweise, dass sie nur „Helden“ eines Video-Spiels sind und nicht den „war on terrorism“ vom Kinderzimmer aus im Alleingang gewinnen. Stadelmaier dagegen, der doch so virtuos mit Metaphern und Realitätsebenen jonglieren kann, vergisst urplötzlich, dass er nur zwischen die Fronten eines interaktiven Theaterspiels geraten ist und nicht wirklich bedroht und beleidigt wurde. Der Schwan auf dem Schoß ist aus Stoff und garantiert kein Vogelgrippevirusträger.
Und der Kritiker, der gekränkt den Saal verlässt, ist vielleicht nicht aus Pappe, aber er spielt ein Spiel: das des gekränkten Kritikers, der sein Gekränktsein im Bewusstsein zahlreicher Schauspieler- und Zuschaueraugen, die ihm folgen, nur spielt. Hoffentlich! Denn wäre der Kritiker, dem solches just passieret, wirklich gekränkt, müsste man sich tatsächlich Sorgen um seine Gesundheit machen.