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Das P-Wort

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www.beckmesser.de (2016/10)
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In der Politik ist Populismus das Wort des Jahres. Da stellt sich die Frage: Gibt es so etwas auch in der Musik, und wenn ja, wie sieht es aus? Vor dem Betreten des begrifflichen Irrgartens sollte man sich aber erst klar werden, was das viel strapazierte Wort überhaupt bedeutet. Vielleicht könnte man es so definieren: Erzeugen von Mehrheiten mit fragwürdigen Mitteln. Etwa wenn ein Regierungschef oder ein Oppositioneller dem Populus („Volk“) auf dem Marktplatz – auf dem realen oder auf dem „Bildschirm“ genannten virtuellen – unter Beschwörung großer Gemeinsamkeiten und unter Umgehung des Parlaments eine Seelenmassage verabreicht, um seine Politik mehrheitsfähig zu machen. Oder noch besser, wenn er nach der Methode Berlusconi gleich einen Fernsehkanal kauft und seine Botschaften mit halbnackten Weibern garniert. Wie auch immer: Die Massenmedien spielen eine entscheidende Rolle.

Und in der Musik? Da fällt der Verdacht natürlich zuallererst auf die Popmusik. Das P-Wort steckt ja schon in ihrem Namen. Sie findet ihre überwältigenden Mehrheiten durch emotionale Botschaften in den Medien und nutzt dazu alle legalen Mittel. Heavy Metal erzeugt Lärmorgien, die das Bewusstsein abtöten, Stars von Madonna bis Rihanna treten nach dem Prinzip „Sex sells“ in einer Art Unterwäsche auf und fassen sich zwischen die Beine, die Rapper fangen ihr Publikum mit obszönen Gesten und Gewaltfantasien, Heino mit seiner obligaten Sonnenbrille zielt direkt auf das unstillbare Heimatgefühl des Durchschnittsbürgers. Und alle haben einen Riesenerfolg. Populismus, wohin das Auge blickt.

Wie verhält sich da der politisch korrekte, kulturell informierte Bürger? Verdammt er diese populistischen Auswüchse, ruft er mit Talibaneifer nach einer Säuberung der Medien? Wohl kaum. Oder soll er Volkserziehung betreiben und die Fanmassen zu Beethoven und Kirchentagsliedern bekehren? Die horrenden Einkommen der Stars als neoliberale Profitgier anprangern? Sich als Anhänger von Nischen- oder Alternativ-Pop outen und in Facebook mit moralischem Zeigefinger auf das dumme Massenpublikum zeigen? Oder soll er einfach akzeptieren, dass ein bestimmtes Publikum bestimmte Interessen und Bedürfnisse hat und diese entsprechend befriedigt haben möchte, am einfachsten in Selbstbedienung wie an der Supermarkttheke? Fragen über Fragen. Wer eine Antwort weiß, möge sich bitte melden.

Einfacher scheint das Problem in der E-Musik zu sein, denn die hat ohnehin Minderheitenstatus. Populismus ist hier höchstens relativ zu verstehen, als Versuch, bessere Verkaufszahlen und Einschaltquoten zu generieren, um sich damit bei Publikum und Geldgebern beliebt zu machen. Ist es also populistisch, wenn Opernhäuser und Philharmonien sommerliche Freiluftkonzerte für Tausende inklusive Live-Übertragung veranstalten, um auch das Normalvolk am elitären Vergnügen teilnehmen zu lassen? Ist es populis­tisch, wenn, wie nun am Luzerner Theater geschehen, ein so anspruchsvolles Werke wie Nonos „Prometeo“ als Event inszeniert wird, bei dem das Publikum sich im Halbdunkel auch auf Matratzen lagern darf und der inszenierende Intendant sagt, die ganze Philosophie hinter dem Stück sei nicht so wichtig, man solle einfach zuhören? (Siehe auch den Bericht auf Seite 10.) Ist es populistisch, wenn in Donau­eschingen mit smarten Computermusikevents an das Easy Listening appelliert wird, um das junge Publikum zu unterhalten? Und dann die Sache mit der „Vermittlung“: Wo verläuft die Grenze zwischen pädagogischem Eifer und Anbiederung? Soll komplizierte Musik überhaupt an das „dumme Volk“ herangetragen werden oder soll man doch besser unter sich bleiben?

Schon wieder einige unbequeme Fragen, und auch hier gibt es keine einfachen Antworten. Man findet sie vielleicht in der Praxis: auf dem weiten Feld zwischen den Versuchen von Veranstaltern, den Elfenbeinturm mittels Abstechern in den Alltag etwas aufzubrechen, und den gewagten Edu­cationprogrammen der BBC, die mit Klassikvideos im Fantasy-Stil die Kids in den Vorstädten von der Straße holen wollen. Jahreszeitenbedingt ließe sich die P-Frage vielleicht auch so formulieren: Darf ein Komponist, der in Darmstadt aufgeführt wird, aufs Oktoberfest gehen?

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