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Moritz Eggert. Foto: Juan Martin Koch
Moritz Eggert. Foto: Juan Martin Koch
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Das wichtigste Talent

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Absolute Beginners 2022/10
Publikationsdatum
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Man kann davon ausgehen, dass alle, die irgendwann nach einer Prüfung an einer Hochschule oder Akademie landen, grundsätzlich talentiert sind. Aber das wichtigste Talent kann man nicht prüfen, man kann es nur erahnen. Ich halte es für das wichtigste aller Talente, denn ohne dieses Talent sind alle anderen Talente nutzlos. Was mag das für ein Talent sein, das die Grundvoraussetzung für eine beständige Karriere ist (als Lehrende wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass die Karrieren unserer Studierenden beständig sind, dass sie ihre Träume erfüllen und am Ziel ihrer Ambitionen ankommen)? Die Antwort ist leider sehr langweilig: Selbstdisziplin.

Ungern erfülle ich irgendwelche preußischen oder deutschen Klischees, aber ich halte tatsächlich Selbstdisziplin für das Allerwichtigste. Damit meine ich jetzt nicht unbedingt irgendeine Form von Selbstkasteiung oder die Fähigkeit, früh aufstehen zu können. Ich meine die Fähigkeit, eine Kontrolle über nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Management der eigenen Ziele zu haben. Selbstdisziplin bedeutet zum Beispiel, an einem Stück weiterzuarbeiten, selbst wenn man keine Lust dazu hat. Selbstdisziplin bedeutet, Ablenkungen zu widerstehen und ein Ziel im Auge zu behalten. Selbstdisziplin bedeutet, sich nie zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen (und deswegen in eine Depression zu verfallen). Selbstdisziplin bedeutet, Fehler und Misserfolge wegstecken zu können, sich nicht von einer einzigen schlechten Kritik in Verzweiflung bringen zu lassen und unerbittlich an sich und den eigenen Werken weiterzuarbeiten, egal unter welchen Umständen und egal, was andere dazu sagen. Selbstdisziplin vermeidet eitle Nabelschau genauso wie endloses Lamentieren, kurzum: Sie ist absolut essenziell.

Ich könnte zahllose Beispiele nennen, bei denen Selbstdisziplin der entscheidende Faktor bei einer Karriere war, sowohl aus der Musikgeschichte wie auch aus meinem persönlichen Umfeld. In der Musikgeschichte ist Richard Wagner das Paradebeispiel – keineswegs mit einer umfassenden Begabung gesegnet, erreichte er unglaublich viel mit einer eisernen Willenskraft, die ihn selbst unüberwindlich scheinende Widerstände überwinden ließ. Und das in einem Umfeld voller Hochbegabungen, denen vieles leichter fiel als ihm.

Natürlich kenne ich auch die Geschichten von Personen, denen fehlender Fokus (auch das ist Selbstdisziplin) vielversprechende Karrieren geradezu versaute. Eine der größten Gefahren bei kreativer Arbeit ist, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Ständig tun sich zahllose Nebenwege auf, die alle schreien „so geht es auch“, man möchte dann manchmal gerne alles hinschmeißen und immer wieder von vorne anfangen, nur wird man sich dann irgendwann in all diesen Möglichkeiten verlieren (=„writer’s block“). Hinzu kommen die Ablenkungen des Lebens – Drogen, unnötige Obsessionen und natürlich auch all das, was uns das Leben so in den Weg schmeißt: Epidemien, Kriege, Wirtschaftskrisen. Dutzende Male kommt man in Situationen, in denen man auf dem falschen Pfad landen kann, um so eiserner muss der eigene Wille sein.

Nun kommt die schlechte Nachricht: Selbstdisziplin ist nur bedingt erlernbar. Sie ist eine Begabung, die man entweder hat oder nicht, genau wie ein absolutes Gehör oder ein gutes Rhythmusgefühl. Hat man sie, kann man sie ausbauen und verfeinern, hat man sie nicht, wird es sehr, sehr schwer. Mit Glück und gnädigem Schicksal mag es eine Weile erstaunlich gut gehen, irgendwann wird aber der Punkt kommen, an dem dieses Talent gefragt ist.

Und nun die gute Nachricht: Niemand ist perfekt. Man wird immer wieder scheitern und muss sich aufrappeln. Gerade dies ist sogar der wichtigste Test für die Selbstdisziplin. Die richtige Einschätzung dieses Talents ist ein wesentlicher Faktor für das, was man von der eigenen Laufbahn erwarten kann. Und ja: natürlich müssen wir nicht alle ehrgeizig und – seien wir ehrlich – auch ein bisschen unsympathisch wie Richard Wagner sein. Die Musikgeschichte besteht nicht nur aus den „Stars“, viele wirken daran mit und nicht alle müssen im Rampenlicht stehen. Was uns aber allen gut tut, ist, die eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Denn meistens sind nicht „die anderen“ Schuld daran, wenn die eigenen Ambitionen nicht erfüllt werden. Man hat es selbst in der Hand.

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