„Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen“ – so das Bonmot zum sozialen Zustand der meisten ihrer Untertanen, welches der große Erzieher Rousseau der Königin Marie Antoinette mit kapitalem Erfolg einst unterschob. Und zuweilen kommt einem dieses Bonmot in den Sinn, wenn man die zahlreichen Bemühungen und Initiativen um kulturelle Bildung und Teilhabe verfolgt. Die Kunst soll da manche Not lindern, wo’s an Grundlegendem mangelt: „PISA? Inklusion? Zuwanderung? Demenz? Da fragen wir mal in der Musikvermittlung.“
So beschrieb Lydia Grün in der vorletzten nmz die Lage sehr treffend (und die Liste der Problemfelder ließe sich beinahe beliebig verlängern), um dann in den Verteilungskampf einzusteigen zwischen dem „Kerngeschäft“ der ausführenden Primärvermittlung und der „Hilfsdisziplin“ der vor- beziehungsweise nachbereitenden Sekundärvermittlung. Wem gebührt der Vortritt bei den Budgets? Angesichts der Tatsache, dass zumeist phantasielose Ausführende kaum noch an ihre Inhalte glauben, zumeist phantasievolle Musikvermittler naturgemäß jedoch viel mehr, ist man geneigt, Letzteren den Vortritt zu gewähren. Generell jedoch nicht.
Denn, dass die Frage nach den Prioritäten sich überhaupt stellt, ist Reflex und logische Folge einer beileibe nicht nur kulturpolitischen Unentschlossenheit hinsichtlich der Ziele von politischem Handeln überhaupt. Und so verschleiert auch das Gewese um Teilhabegerechtigkeit nur, dass es vor allem um Verteilungsgerechtigkeit geht. Man braucht nur in den Publikationen des Rates für Kulturelle Bildung zwischen den Zeilen zu lesen, und der aktuelle Bildungsbericht 2016 der (immerhin!) Bundesregierung benennt klar sozioökonomische Ursachen für die wachsende Bildungsungerechtigkeit. Es geht also gar nicht so sehr um die Zugänge, sondern vor allem um die Zustände. Zwar ist Beethoven im sozialen Brennpunkt schön und gut, jedoch niemals und auch nicht bei bestem Einsatz nachhaltig, wenn der soziale Brennpunkt ein solcher bleibt. Und wenn jedes Kind ein Instrument hat und keines zurückbleiben darf, so bleibt doch das zurück und wird weiter abgehängt, woher sie kamen, das größere Ganze: die Familie, das Umfeld, der Lebensraum. Tatsächlich bescheinigt der Bildungsbericht 2016 immer mehr Ungerechtigkeiten in beziehungsweise Unterschiede zwischen den Regionen.
Aber man belässt es weiterhin bloß beim Schönen und Guten und lässt (durchaus gewollt?) immer mehr Verteilungskämpfe zu: Kuchen statt Brot, Vermittlung statt Kunst, Teilhabe statt Leben und so weiter. Ein Zustand, in dem die einzige Antwort, die man darauf geben kann, immer mehr verschwimmt und verschwindet, auf dass sie vergessen wird: Dass nämlich das eine ohne das andere nicht zu haben ist.
Natürlich hat die Präzeptorin des Netzwerk Junge Ohren mit ihrer Beobachtung in der nmz recht, die Musikvermittlung sei zurzeit so etwas wie die ideelle Reha der ausführenden Praxis. Kein Grund jedoch, die Neuordnung des Kulturbudgets zu fordern, denn dieser Verteilungskampf ist durch die Politik bedingt und keineswegs im Gegenstand angelegt. Kunst, und Musik im höchsten Maße, ist ohne Vermittlung und Adresse nicht denkbar – ob sie nun auf Millionen aus ist (Atemlos durch die Nacht) oder sich erst mal an niemanden wendet (Hammerklaviersonate). In je unterschiedlicher Qualität und Komplexität ist sie die Adresse schlechthin, ist sie Ruf und Anrufung, gehört und erkannt zu werden. Daher wäre, kurz nach dessen 80., an ein Bonmot des großen Kunstvermittlers Bazon Brock zu erinnern: „In Wahrheit geht es darum, das Publikum aufzufordern, sich selber endlich ernst zu nehmen, sich selbst nicht als Unterhaltungspublikum zu verstehen, das sich von den Künstlern mit Kuchen und den Vermittlern als Oberkellnern verwöhnen lässt. Es geht darum, die Vermittlung als eine Form von Arbeit zu etablieren, nicht bloß als eine Art Erleichterung des Zugangs zur Kunst.“
Musikleben als Frucht kollektiver Arbeit unter menschenwürdigen Umständen: Publikum derart ernstgenommen, heißt, ihm Musik als Zuckerguss weder für die Kaispeicher des Wohlstands noch für die Areale der Verwahrlosung zu bieten, sondern als einzigartiges Versprechen, das stets neu einzufordern und einzulösen ist. Publikum ernstgenommen, heißt vor allem aber, seine Bedürfnisse und Nöte ernst zu nehmen.
Denn, je besser die Zustände, desto vielversprechender die Zugänge.