Seit der Pisa-Studie wissen wir, dass die Schulen nichts mehr taugen. Deshalb hier der Vorschlag: Macht den Supermarkt zur wahren Bildungsstätte! Denn zwischen den Regalen, die die Welt bedeuten, kann man noch grundlegende philosophische Erkenntnisse gewinnen. Man kaufe sich nur eine Schachtel jener tiefrot glänzenden Designer-Erdbeeren, in deren exklusivem Preis das Flugbenzin einen zehnmal so großen Anteil hat wie die Arbeitskraft des Pflückers, und beiße zu Hause in eines dieser bunten Dinger hinein: Ein Blick in die Abgründe des geschmacklichen Nichts tut sich auf. Nicht nur die Zwei-Welten-Theorie Platons wird damit schlagartig exemplifiziert, sondern auch der Satz, dass die Summe aller Energien stets gleich bleibt. Je mehr die Früchte ihren eigenen Reklamebildern gleichen, desto mehr schrumpft der Gebrauchswert für denjenigen, der sich von ihnen beim Essen einen Genuss verspricht. Mit andern Worten: Fortschritt hat seinen Preis. Doch das ist der Lauf der Welt.
Das gilt auch für die Medien, sind sie doch neben Rüstung und Börse vielleicht derjenige Wirtschaftszweig, der den digitalen Fortschritt am reinsten verkörpert. Wenn einem heute die Nachrichten besonders schnell und bunt verpackt ins Haus geliefert werden, so geht das meist auf Kosten des Inhalts, der nun Content genannt wird. Selbst in der als seriös geltenden Presse hat das seine Spuren hinterlassen. Wie käme sonst ein staatstragendes Organ wie die FAZ dazu, in ihrer Ausgabe vom 2. Januar, der ersten Nummer des Jahres 2003, mit zwei deftigen Druckfehlern aufzuwarten und damit ungewollt, aber hoch symbolisch den Startschuss für ein Jahr der Sprachverdrehungen zu geben, von dem wir schon nach drei Monaten gehörig Ohrensausen haben? Im Nordkorea-Artikel auf Seite eins wird Präsident Bush beim Denken beobachtet: „Ich denke, daß ist keine militärische Kraftprobe, sondern eine diplomatische“, wird er zitiert. Die Verwechslung von „das“ und „dass“ – respektive alt bewährtem „daß“ in der FAZ – ist seit der Einführung der neuen Rechtschreibung offensichtlich nicht nur bei Schülern zum Standardfehler avanciert.
Der zweite, noch viel peinlichere Lapsus findet sich auf Seite fünf derselben Ausgabe in einem ganzseitigen Inserat der Bundesregierung. Darin versucht sie zum Jahresbeginn ihre verworrene Wirtschaftpolitik der Öffentlichkeit zu erklären: „Wir wollen den Sozialstaat unter veränderten weltwirtschaftlichen Bedingungen und bei einer älter werdenden Bevölkerung bewaren.“ Darauf wird es wohl hinaus laufen: Der Sozialstaat als Ware, die jeder kaufen kann – gesetzt, er hat das Geld dazu. So viel Warheit wahr noch nie in einer politischen Werbekampagne.
Wo die hohe Politik schon so nette Fehlleistungen produziert, will das Feuilleton nicht zurück stehen. Doch hier geht es nicht in erster Linie um wahr oder falsch. Da der Feuilletonist weniger Fakten als Meinungen ausbreitet, produziert er, frei nach Wittgenstein, sinnlose Aussagen. Ein Musterbeispiel war neulich in einer Musikzeitung zu lesen: „Seine Sätze schneiden scharf durch die Phänomene.“ Der Kritiker wollte damit die Musiksprache eines Komponisten möglichst prägnant charakterisieren, doch sein Satz ist nichts als ein Papierschwert, das raschelnd die Luft durchschneidet.
Das führt uns direkt in die Niederungen der aktuellen Musikkritik, wo sich die Sinnfrage im Hinblick auf das eigene Tun täglich neu stellt. Um der Suche nach einer Antwort auszuweichen – was ja auch eine Form von Überlebenstaktik ist – kam im letzten Mai in einer großen süddeutschen Zeitung ein besonders schlauer Jungrezensent auf die Idee, das deprimierende Gefühl des eigenen Unvermögens einfach auf den zu kritisierenden Gegenstand zu übertragen: „Der unbedingte Anspruch, ,Gültiges’ zu schaffen, kollidiert mit der Ahnung der Regisseure und der deprimierenden Erfahrung des Publikums, dass der ‘Ring des Nibelungen’ schwerlich neu zu schmieden ist. Man muss Wagner gar nicht sonderlich lieben, um zu wissen: Es ist schon alles gesagt.“ Der Stoßseufzer des einsam Wissenden, der alles durchschaut hat und mit matter postmoderner Ironie nun eine kumpelhafte Nähe zu Baudelaires „Ce pays nous ennuie, ô Mort!“ reklamiert.
Da sind die offensichtlichen Märchenerzählungen schon erheiternder. Etwa wenn in der gleichen, Meinungsführerschaft beanspruchenden Zeitung zu lesen ist: „Nono erlebte Venedig nicht als Identifikationsmoment, sondern als ein Gegenüber – genauso wie er von seinem Haus auf der etwas abseits gelegenen Laguneninsel Giudecca auf die Skyline der Serenissima blicken konnte.“ Der uninformierte Redakteur verwechselt hier offensichtlich Nonos früheres Wohnhaus mit dem jetzigen Sitz des Archivio Nono. Er weiß nicht, dass der Komponist auf der dem Meer zugewandten Seite der Giudecca wohnte, von wo die „Skyline der Serenissima“ mitnichten zu sehen war. Doch wichtiger als Fakten sind ihm süffige Stories und stimmungsvolle Bilder. Sie suggerieren Authentizität und das Gefühl, ganz nah an der Sache zu sein. Dass es sich um einen Fake handelt, weiß der Leser nicht.
Das weiß nicht einmal derjenige, der in einem Zustand höherer Naivität darüber berichtet hat. Aber weshalb soll nicht auch der kleine Musikrezensent in den Strom der großen Märchenerzählungen eintauchen, wenn sich schon Spitzenpolitiker bei ihrer Kriegsrhetorik auf veraltete Seminararbeiten von Studenten abstützen und sich dessen nicht einmal bewusst sind? Vermutlich sind unsere Medien manchmal näher an den Märchen aus Tausendundeiner Nacht als man denkt. Und deren Ursprung liegt bekanntlich irgendwo in der Nähe von Bagdad.