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Den Weg zum letzten Hochgefühl versperrt

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Leserbrief zum Artikel „Alle Zutaten um 180 Grad gedreht“, nmz 11/08, S. 17
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Hoch anrechnen muss man dem Autor den sensiblen Umgang mit dem schwierigen Thema „Linkshändigkeit“. Auch die Mahnung, das weitgehend unbekannte Feld in die Unterrichtspraxis einzubeziehen und nicht aus Unkenntnis „links liegen zu lassen“, ist überfällig.

Dass aber am Ende stehen bleibt, man müsse die Linkshänder nur gut unterrichten, dann hätten sie keine Probleme mit dem Spielen auf der „falschen“ Seite, kann ich aus meiner Erfahrung nicht bestätigen. Es sind einfach zu viele Linkshänder, die ihre schwächere Bogenseite täglich nach allen Regeln der Kunst trainieren und am Abend feststellen, dass ihnen eine Barriere den Weg zum letzten Wohlgefühl versperrt.
Einige Punkte sehe ich anders als der Autor:

1. Entscheidend für die Zuordnung einer Tätigkeit zur richtigen Seite ist weniger die Schwierigkeit, sondern vielmehr der Charakter der Aufgabe: Die nichtdominante Hand bereitet eine Aktion vor, die von der dominanten Hand ausgeführt und abgeschlossen wird. Die Aufgabenverteilung beim Streichen folgt genau diesem Prinzip der Arbeitsteilung – für Rechtshänder.

2. Die vom Autor beschriebene Vergrößerung der motorischen Areale im Gehirn beweist nur, dass das Gehirn des Musikers an dieser Stelle hervorragend trainiert wurde (und sich bei Untätigkeit wieder verkleinert). Mit der Dominanz einer Seite hat das nichts zu tun, die Merkmale der Händigkeit gehen weit über dieses einfache Faktum hinaus. Die Begeisterung über die Formbarkeit und Trainierbarkeit des Gehirns ist zurzeit sehr populär, sollte aber kritisch hinterfragt werden, denn im gleichen Atemzug berichtet die Hirnforschung immer mehr über neu entdeckte archaische Verhaltensmuster, auf die wir vor allem unter Stress (den wir Musiker zur Genüge kennen) unweigerlich zurückgreifen. Die Händigkeit ist ein solches nicht veränderbares oder umtrainierbares unerklärliches Muster.

3. Nach meiner Auffassung gibt es sehr wohl eine richtige und eine falsche Seite. Wie kann es sonst sein, dass (linkshändige) Musiker nach Jahrzehnten immer noch das Gefühl haben, den „Bogen nicht sicher genug in der Hand zu halten“, beim ersten Probieren mit der linken Hand aber spontan spüren, dass es sich jetzt „richtig“ anfühlt. Sind die alle nur falsch unterrichtet worden? Was ist mit der gar nicht so kleinen Zahl von Schülern, die nach einigen Jahren umgelernt haben und nie mehr anders spielen wollen? Für viele ist dies ein Moment der Befreiung und kein „oberflächliches Manöver“. Ich kann nur empfehlen, dem linkshändigen Kind beim Ausprobieren von rechts oder links ins Gesicht zu schauen, dort kann man einen Hinweis darauf bekommen, welche Seite die „richtige“ ist.

4. Die linke Hand zur Führung zu benutzen halte ich für gefährlich; die dort eingesetzte Energie gelangt nur unter größten Mühen wieder zurück an die Stelle, wo sie gebraucht wird – im Bogenstrich.

Am Ende des (lesenswerten) Artikels bleibt für mich ein „Geschmäckle“ übrig: Die angepriesene freie Wahl der Seite ist wohl wieder nur die Freiheit für uns Linkshänder, auf der rechten Seite zurechtzukommen oder nicht – man muss sich nur ordentlich Mühe geben. Wer so argumentiert, muss sich bei aller Sachkenntnis und gutem Willen den Vorwurf gefallen lassen, sich (unbemerkt?) zum Helfershelfer einer „rechtsgerichteten“ Gesellschaft zu machen.

Walter Mengler, Aachen, Cellist, Linkshänder

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