Was Sie in Ihrem Text indirekt beklagen, ist der wohl nicht mehr aufhaltbare endgültige Verfall einer ehemals blühenden Kommunikation mittels Briefen, Nachrichten, Billetts, was auch immer. Die Kultur des Briefeschreibens, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert zur Hochblüte auflief, ist in unserem Jahrhundert zu Ende gegangen, das belegen nicht nur die fingierten Leserbriefe in den Printmedien der ehemaligen DDR. Beim Studium einiger Originalbriefe von Franz Liszt aus den 1860er-Jahren fand ich seine aufschlussreiche Bemerkung, dass der Empfänger, falls er die Absicht habe, diesen Brief zu veröffentlichen, doch bitte seinen Verleger C. F. Kahnt in Leipzig berücksichtigen möge.
Schon beim ersten Lesen Ihrer Kolumne „Benetzt“ in der Nummer 6/2000 begannen bei mir einige Gedanken zu sprießen, die ich Ihnen in durchaus altmodischer Form mittels maschinenschriftlichem Brief mitteilen möchte. Aber dass Sie bitte nicht glauben, ich möchte diesen Vorgang als „event“ bewertet wissen, denn ich gehöre zu jener seltener werden Spezies Zeitgenossen, die sich relativ häufig noch bemüht, Gedanken, Einfälle, Ideen, Vorschläge, Kritiken und was einem sonst noch so durch den Kopf geht, schriftlich zu fixieren, um diese Materialien dann in Mappen, Ordnern oder in Karteikästen für die auf sie zutreffende Verwendungsmöglichkeit aufzubewahren. Als Besitzer von drei mechanischen Schreibmaschinen, für die es inzwischen schon keine Reparatur- oder Servicestellen mehr gibt, aber eines Computers samt entsprechendem Zubehör, stehe ich dem Internet durchaus kritisch-distanziert gegenüber. Was Sie in Ihrem Text indirekt beklagen, ist der wohl nicht mehr aufhaltbare endgültige Verfall einer ehemals blühenden Kommunikation mittels Briefen, Nachrichten, Billetts, was auch immer. Die Kultur des Briefeschreibens, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert zur Hochblüte auflief, ist in unserem Jahrhundert zu Ende gegangen, das belegen nicht nur die fingierten Leserbriefe in den Printmedien der ehemaligen DDR. Beim Studium einiger Originalbriefe von Franz Liszt aus den 1860er-Jahren fand ich seine aufschlussreiche Bemerkung, dass der Empfänger, falls er die Absicht habe, diesen Brief zu veröffentlichen, doch bitte seinen Verleger C. F. Kahnt in Leipzig berücksichtigen möge. Dies ist unübersehbarer Hinweis darauf, dass so mancher Briefeschreiber früher durchaus damit rechnete, auch auf diesem Wege seine Ansichten der Welt mitzuteilen. Mit dem Brief herkömmlicher Art stirbt also auch eine literarische Gattung. Um wie viel dürftiger wäre unsere Kenntnis früherer gesellschaftlicher Strukturen, auch der musikalischen, hätten wir nicht teilweise unendlich viele Briefe von fleißig schreibenden (oder diktierenden) Persönlichkeiten jener Zeiten. Die modernen Brief-Editionen von Mozart, Haydn, Beethoven, Schumann, Liszt, Wagner (!), Mahler, R. Strauss et cetera, füllen viele Regalmeter. Und wenn diese Tatsachen nicht so bedeutungsvoll wären, wer würde dann heute die teilweise exorbitanten Summen ausgeben, die auf Autographenauktionen für den Zuschlag eines kleinen Stückes Papier aufzubringen sind? Ich persönlich scheine alleiniger Besitzer einer nennenswerter Anzahl von Briefen einer inzwischen verstorbenen Musikerpersönlichkeit zu sein; diesem Umstand verdankt eine umfangreiche Diplomarbeit ihr Entstehen, was nach Form, Inhalt und Qualität ansonsten nicht möglich gewesen wäre.Deshalb, und es gibt sicherlich noch manch andere Gründe, ist der Untergang der Briefkultur in unserem hochtechnisierten Zeitalter durchaus beklagenswert. Nach meiner Auffassung ist der persönlich abgefasste Brief nicht ersetzbar, er ist Abbild geistiger Regsamkeit, Spiegelbild der Seele, langlebiges Zeugnis momentaner Eingebungen, und noch vieles mehr. Nicht umsonst konnte sich eine Lehre von der Handschrift entwickeln: Die Graphologen werden arbeitslos! Es scheint mir auch müßig zu sein, der Frage nachzugehen, warum die Handschrift von Schulabgängern immer weniger lesbar, dagegen die Forderung: „In jedes Klassenzimmer einen Computer!“ immer lauter wird. Von Schülern wird inzwischen jede manuelle Schreibaufgabe als Frondienst gewertet.
Im Gegensatz zum Brief bleibt von der (real ja nicht existenten) Bildschirmseite nach einem Knopfdruck buchstäblich nichts übrig – Entsorgung total; und vielleicht basteln schon irgendwo auf der Welt hinterhältige Charaktere am Super-Gau des Internets. Die bisherigen Virus-Attacken mögen da nur Kostproben und Versuchsballons gewesen sein. Deshalb warne ich davor, musikalische oder journalistische Geniestreiche ausschließlich über das world-wide-web zu verbreiten: Sie könnten in dieser Unendlichkeit spurlos abhanden kommen.
Für mich bleiben das hin und wieder totgesagte Buch, der gedruckte Zeitschriftenbeitrag, der persönliche Brief (auch wenn ich mir dazu immer wieder das Uralt-Tipp-Ex mittels Waschbenzin verflüssigen muss), nach wie vor unverzichtbare Bestandteile unserer Kultur. Das Internet dagegen fördert in Wahrheit das Vordringen einer schriftlosen Zivilisation, was in seinen langfristigen Auswirkungen noch überhaupt nicht überschaubar ist. Zukunft scheint heutzutage technisch machbar zu sein, aber was geschieht mit unserer Vergangenheit? Eine elektronische Zeitung mag zwar aktueller sein, aber die Printmedien sind beständiger und bleiben verfügbar. Deshalb hier noch eine Bitte zum Schluss an die technischen Macher der nmz: Verwenden Sie bitte unbedingt alterungsbeständiges Paper! Bibliothekare kennen manch trauriges Lied mit vielen Strophen. Tausende von Zeitschriften, Büchern und Noten vom Beginn unseres Jahrhunderts, als minderwertige Rohstoffe zur Papierherstellung Verwendung fanden, zerbröseln bereits heute unter den Fingern, während sich zum Beispiel die AMZ (erschienen von 1798 bis 1848) einer zwar etwas stockfleckigen, ansonsten aber immer noch tadellosen „Ansicht“ erfreut.
In diesem Sinne wünsche ich, sehr geehrter Herr Geißler, der nmz keine virtuelle, sondern eine durchaus lange reale, papierene Zukunft, damit auch die kommenden Generationen sich an ihrem Inhalt erbauen können.