Kantinen spielen eine unterschätzte und selten diskutierte Rolle im Hochschulleben. Schließlich sind sie der Ort, an dem sich jedermann trifft, und daher vor allem für Komponisten von entscheidender Bedeutung. Denn nur hier kann das scheue und äußerst seltene Wesen „Ich-bin-Instrumentalstudent-und-tatsächlich-bereit-zeitgenössische-Musik-zu-spielen“ angetroffen werden, ein Wesen, von dessen tatsächlicher Existenz immer nur gemunkelt wird, das in seltenen Momenten in Kantinen auftauchen soll und durch einen Cappuccino in eine unverfängliche Unterhaltung wegen des nächsten Klassenkonzerts verwickelt werden kann.
Doch auch sonst sind Kantinen wichtig – nur dort kann letzte Hand an die Stücke angelegt werden, die im nächsten Kompositionsunterricht vorgelegt werden. Komponisten die sonst eher im stillen Kämmerlein auf Computermäuse klicken werden nun zu „Showkomponisten“ die vor aller Augen ihre Kunst zur Schau stellen. Hierbei sind Laptops eher „uncool”, es müssen gigantische A3-Partiturseiten sein, am besten mit Bleistift oder einem teuren Füller beschrieben. Wo andere mit schönem Gesang oder Geigenspiel zu bezaubern wissen, lässt der Kompositionsstudent die Damen- beziehungsweise Herrenwelt gerne an kalligraphischen Experimenten intellektuellen Zuschnitts teilhaben, teilweise durchaus mit Erfolg. Einer Venusfalle gleich suggeriert der Jungkomponist, dass er nicht angesprochen werden will, da er gerade die letzten Seiten seiner 4. Symphonie vollendet, gleichzeitig ist natürlich genau das Gegenteil der Fall.
Die Bedeutung des Essens ist auch nicht zu unterschätzen. In München zum Beispiel wurde die halb unterirdische Kantine (wahrscheinlich früher eine Art Nazikeller so wie in der berühmten Szene in „Inglourious Basterds”) lange Zeit von einem kleinen schnurrbärtigen und stets schlecht gelaunten Wirt namens „Pepe” beherrscht, der exakt zwei verschiedene Gerichte anbot: „kleine Nudeln” und „große Nudeln”. Die Nudeln waren eine Art schlabbrige Penne, die mit einer extrem süchtigmachenden Tomatensauce serviert wurden. Wahrscheinlich beinhaltete diese Sauce auch psychedelische Stoffe, auf jeden Fall führte ihr dauerhafter Genuss zu seltsamen Verhaltensweisen bis hin zu merkwürdigen kreativen Schüben oder dem Wunsch, Pepes stets sehr hübschen Mitarbeiterinnen einen Heiratsantrag zu machen. Pepe sperrte auch gerne mal die Kantine spontan für private Feiern seiner Lieblingsgäste (meistens italienische Dirigierstudenten), da floss dann Chianti und es gab sogar mal weiße Tischtücher. Heute ist die Münchener Kantine eine eher anonyme, vom „Studentenwerk” betriebene Institution, aber immerhin gib es jetzt etwas mehr Auswahl, und der Cappuccino kann sich sehen lassen.
Als ich in London an der Guildhall School of Music studierte, gab es eine lange und immer mehr ausufernde Fehde zwischen meinem Kompositionslehrer, dem unnachahmlichen Robert Saxton, und dem Besitzer der Cafeteria, einem cholerischen Italiener. Was mit gegenseitigen Beleidigungen begonnen hatte (Saxton hatte wohl einmal ein schlecht zubereitetes Sandwich bekommen, eine tödliche Beleidigung für jeden Engländer), wuchs sich zu einem richtigen Krieg aus. Irgendwann kam es zum Eklat und es kam zu Handgreiflichkeiten, die Kriegsparteien übergossen sich mit Getränken und gingen sich gegenseitig rabiat ans Leder. Dies war erstaunlich, denn bei Robert Saxton handelte es sich um einen äußerst friedfertigen und ausgesprochen höflichen Menschen, aber anscheinend hatte der Kantinenwirt die falschen Knöpfe gedrückt (und umgekehrt). Die erschreckende Trostlosigkeit der damaligen Räumlichkeiten der Guildhall mag ebenfalls zu der Eskalation beigetragen haben. Beide kündigten.
Die Münchner Hochschule wird bald renoviert, die Guildhall ist in ein neues Gebäude umgezogen. Aber es werden wieder neue Orte entstehen, die in der Biografie der dort studierenden Komponisten wieder eine wichtige Rolle spielen werden. Mögen sie uns darüber berichten.