Wenn man sich die europäische Musikgeschichte wie auf Postern in den Wohnungen von Musikstudenten als einen großen Baum vorstellt, dessen viele Äste sich von einem Ursprung irgendwo in der griechischen Antike bis in die heutige Zeit fortpflanzen, so wäre das, was wir heute vereinfacht als „Klassische Musik“ bezeichnen, ein relativ kräftiger Ast, der über eine Periode von mehreren hundert Jahren immer wieder Ausgangspunkt für neues Wachstum war.
Braver Ast! So ist zum Beispiel Jazz ohne Funktionsharmonik, einer Errungenschaft der abendländischen polyphonen Musik, nicht denkbar, und auch wenn der Jazz-Ast heute durch die Ausverkaufsstrategien von zu vielen smarten Till Brönners nicht mehr der allerkräftigste ist, so hat er doch im Verlauf seines kurzen Lebens viele neue Äste erzeugt, die heute mehr oder weniger die gesamte Popularmusik ausmachen.
Nun wartet man schon seit einiger Zeit darauf, dass von dem einstmals so fruchtbaren Hauptast der „Klassischen Musik“ mal wieder irgendetwas Interessantes kommt, aber stattdessen hängt da eher so eine Art absterbendes trauriges Zweiglein mit Namen „Neue Musik“, von dem leider nicht viel mehr ausgeht als ein gewisser Geruch der Larmoyanz. Aus einem Pflichtbewusstsein des Hauptstamms heraus noch relativ wohlgenährt, (wie lange noch?) fällt dieser winzige, tendenziell immer parasitärere Nebenast eher durch große Worte als durch echte Taten auf.
Und was ist mit dem guten alten Hauptast „Klassische Musik“?
Der gefällt sich allein in musealer Verwaltung eines immer kleiner werdenden Repertoires. Und da die kalten Mechanismen des Kommerzes schon lange auch die „Klassische Musik“ erreicht haben, sind die zwei schlagenden Argumente der gerade angesagten hübschen Junggeigerinnen –meist zum Kaufanreiz auf den CD-Covers nett hindrapiert – definitiv noch das Lebendigste darin.
Dass das Leben auf dem kleinen Zweiglein „Neue Musik“ immer frustrieren-dere Züge annimmt, dafür ist die zunehmende Zahl der „Neue Musik“-Aussteiger und der zornigen Jungkomponisten Beweis genug. Auch wenn ein mahnender Reinhard Schulz im letzten Leitartikel der nmz empfiehlt, sich vor dem von ihm erhofften „nächsten großen Sprung weit zurückzulehnen“ und sich lieber in den bewährten Schoß der Altvorderen – zum Beispiel ins Zentrum des Muffs: Darmstadt! – zurückzubegeben, widerspricht er sich gleich im nächsten Satz, in dem er sich (zu Recht) den Typus des Neuerers mit einer Vision zurückwünscht, der „sich den Lehrenden wie Mitstudierenden widersetzt, womit er vielleicht auf totale Ablehnung stößt“. Fragt sich nur, warum er sich dann nicht für die interessiert, die genau dies vor seiner eigenen Nase tun …
Ach, von unserem Ästlein wagt man schon lange keine großen Sprünge mehr, lieber will man in vertrauter, möglichst von außen ungestörter Umgebung seine atrophierten Knösplein pflegen. Wer etwa jemals in einem typischen elektronischen „Neue Musik“-Konzert weilte, nimmt sehr wohl wahr, dass sich die dort redlich bemühten Komponisten als Speerspitze ihrer Kunst empfinden; dumpf wummern da die Surround-Lautsprecher und hektische Flötisten spucken in ihr Instrument, während ein vom Licht seines Apple-Laptops angestrahlter bleicher Komponist darüber wacht, wie jeder erdenkliche auf einer Flöte produzierbare Klang erst durch Max/MSP und dann durch den Raum geworfen wird. All das ist dann ungefähr so spannend wie der Jahresbericht der Modelleisenbahner von Castrop-Rauxel.
Für viel Geld wird bis heute das Pariser IRCAM als „cutting edge“-Institut der Computermusik gefördert – kaum ein Komponist, der sich nicht irgendwann mit einem gut dotierten IRCAM-Auftrag schmücken will – tatsächlich ist aber die unabhängige und staatlich ungeförderte Computermusik von zahllosen genialen Internet-Freaks inzwischen sowohl programmiertechnisch wie auch ästhetisch lebendiger und überlegener.
Die elektronische Musik im Allgemeinen ist ein besonders gutes Beispiel für den abnehmenden kulturellen Einfluss der „Neuen Musik“: Wurde die Ästhetik noch in den 50er- und 60er-Jahren entscheidend von Komponisten wie Schaeffer oder Stockhausen mitgeprägt, läuft man heute meistens den Trends der alternativen Popmusik hinterher. Diese ist zwar weniger ambitioniert, aber dafür wesentlich spielfreudiger und wagemutiger als ihr ehemaliges Vorbild „Neue Musik“. Schade eigentlich. Es überrascht daher nicht, dass heutige Professoren elektronischer Musik mehr über das Gesamtwerk von Aphex Twin wissen als über das ihrer eigenen Kollegen an anderen Universitäten.
Wege aus dieser Situation gäbe es viele, einer davon wäre zum Beispiel, sich wieder mehr nach den anderen Ästen umzuschauen und zu versuchen, verschiedenste Strömungen intelligent zu bündeln, auf den Punkt zu bringen und zu amalgamieren, gerade entgegen der heutigen Tendenz der Verästelung und Spezialisierung. Nichts anderes hat die „Klassische Musik“ stets in ihrer Geschichte getan. Dabei ist die Möglichkeit der detaillierten Notation von musikalischen Ideen ein definitives Plus der (noch) klassisch gebildeten Neutöner, auch wenn diese Kunst inzwischen oft von einem dröhnenden Jahrmarkt der Partitureitelkeiten („meine Partitur ist größer und komplexer als deine, ätsch bätsch“) gefährdet wird.
Was aber nicht funktioniert, ist: auf dem Fleck stehenbleiben, sich „zurücklehnen“ (Schulz), den vorhandenen und mehr als wackeligen Status Quo auszukosten. Viele „Neue Musik“-Festivals haben sich inzwischen damit abgefunden, „Neue Musik“ als eine Art coolen Zeitvertrieb für eine aufgeklärte Elite zu zelebrieren, und feiern eine neue Unabhängigkeit von der Tradition.
Aber ach, damit fehlt dann noch mehr Lebenssaft im Ästlein, denn viele der zahllosen Dogmen und Skurrilitäten gerade der deutschen „Neue Musik“-Szene kann man ja nur verstehen, wenn man sich intensiv mit deren Geschichte auseinandergesetzt hat. Davon getrennt ist vieles dann noch absurder, da es sich ästhetisch vor allem aus einem Gegenentwurf zu Vorangegangenem speist – wenn man aber das zu Kontrastierende gar nicht mehr kennt, wie spannend ist das?
So laufen wir also weiterhin Gefahr, bald endgültig abzusterben und vom Hauptast abzufallen. Und auf dem Weg nach unten, zum Laubhaufen der vergessenen Musikstile am Fuße des Baums, klingt uns das irre kichernde Mantra der sprechenden Köpfe unserer Szene in den Ohren: „Klappe halten, weiter so, nichts muss sich ändern, alles wird gut.“
Die Kapelle auf der Titanic war da irgendwie tröstlicher.