Eine ebenso kritische wie wohlwollende publizistische Stütze des Musiklebens hierzulande – also all der Musikmacher, -menschen und -vereinigungen da draußen in den Ländern und Gemeinden, also beispielsweise die nmz – wird naturgemäß mehr Sinne für den Vereinsfußball aller Klassen entwickeln, als etwa für einen Rasenballsport des Kapitals und der Investoren, wird eher das Sursum corda hie vernehmen, als das Gesumse um shareholder values et cetera da. Ach ja, die Globalisierung …
Der Kloppo der Klassik
Die hat uns ohnehin jüngst abermals einen Stich ins musik- wie fußballaffine Herz versetzt, als bekannt wurde, dass Jürgen Klopp, uns‘ Kloppo!, weder die englische Nationalmannschaft trainieren wird, noch abermals den Dortmunder BVB. Nein, er wird beim Energiebrause-Riesen Red Bull den Posten des „Global Head of Soccer“ bekleiden. Womit der Weltkonzern nach dem Klein-Klein von Salzburg, über Leipzig und New York nun tatsächlich wohl die große weltumspannende Perspektive strategisch anpeilt. In Fußballdingen.
Salzburg… Red Bull… da war doch was in Kunstdingen? Ja, 2003, da spendierte einer der weltweit führenden Monopolisten für hochdosierte koffeinhaltige Erfrischungsgetränke den Festspielen sowie dem eigenen Firmensitz im Salzkammergut (Fuschl am See) spektakulär Stockhausens „Helikopter-Streichquartett“. Zwanzig Jahre später ist Salzburg Hauptwirkungsort von Teodor Currentzis‘ neuer Chor- und Orchestervereinigung Utopia, einem, so die Festspiele, „besonderes schöpferische[n] Kollektiv von Menschen mit einer gemeinsamen musikalischen Ideologie. Sie finden sich zusammen, um ihre musikalischen Visionen kompromisslos und mit höchsten Ansprüchen in Klang umzusetzen. Das Projekt vereint Musiker*innen und Sänger*innen aus zahlreichen verschiedenen Ländern“, und es finanziert sich aus Einnahmen sowie durch die „Kunst und Kultur DM Privatstiftung“: ein besonderes Vermächtnis des RB-Gründers Dietrich Mateschitz mithin. Da es sich bei den Instrumentalisten größtenteils um professionelle Orchestermusiker handelt, stellt sich die Frage, ob solcherlei Umschalten der Festspielidee in den Modus des Dauerbetriebs die öffentlich getragenen Ensembles nicht weiter kannibalisiert, ideell wie personell, hier nur am Rande. Das aber ist schnöde Kritik am frei flottierenden Kapital und ohnehin klar.
Da sich Currentzis‘ Musica Aeterna aus Perm nicht mehr ganz so rechnet, jetzt also Utopia von Red Bull, das Russland wohlgemerkt nicht sanktioniert, mit Teodor Currentzis sozusagen als „Global Head of Classics“ und mit Spitzenkräften aus Spitzenorchestern weltweit. Utopia bezeichnete unlängst Dave Hurwitz, einer der wenigen rücksichtslosen CD-Kritiker, als „Orchester-Gulag“, was zwar viel zu weit geht, aber irgendwie in die richtige Richtung. Wie beim neusten Utopia-Projekt in der Berliner Philharmonie zu erleben, handelt es sich dabei eher um ein Trainings- und Wellness-Camp für Führungskräfte, um Exerzitien in Standfestigkeit und Subordination unter ein Regime zwecks Freisetzung transzendentaler musikalischer Exekution (zu denken ist bei dem Ausdruck zuallererst an Franz Liszt!). Bei Mahlers vielgespielter 5. Symphonie, die nach einer „Passacaglia“ von Jay Schwartz (warum bloß?) auf dem Programm stand, gerät das naturgemäß spektakulär. Da ist ein Gewoge und Geschunkele unter den bis auf die Cellisten allesamt stehenden hochmotivierten Musikern; besonders herausstechend, die beiden Herren am siebten (!) Bratschenpult und stellvertretend das überwältigende 1. Horn. Dass man vieles an diesem neuerdings zu beliebten Werk „so“ noch nicht gehört hat, ist eine Erfahrung an dem Abend, die sich unausgesetzt wiederholt. Immerzu. Immerzu, „so“ noch nicht.
Und „so“ wird mit höchster Perfektion alles bis ins Kleinste auseinanderartikuliert, hie betont, da sofort wieder zurückgenommen, Stimmen kommen und gehen, jedem und jeder ein Solo quasi, und es scheint, als ob die individuelle Phrase die größtmögliche musikalische Formeinheit wäre. Weil das aber nicht so ist, sind der Bogen, die Form, der Fluss, musikalisch gestaltete Zeit, alles etwas, das sich nicht einstellen will an diesem Abend. So etwas wie eine Symphonie, Mahlers 5. zum Beispiel. Deren leidgeprüftes Adagietto, eigentlich ein Sätzchen, formvollendet erschlichene Seligkeit und „Lied ohne Worte“ (Adorno), zerbröselt so unter dem utopistischen Artikulationsregiment. Es singt nicht, es kommt nicht einmal vor der Stelle. Sozusagen die Kehrseite der Dauererregung in den übrigen Sätzen.
Sehr erstaunlich war aber bei dem Konzert, das in Berlin ebenso bejubelt wurde, wie es anderswo bejubelt werden dürfte, dass der eigene Anspruch, „musikalische Visionen kompromisslos und mit höchsten Ansprüchen in Klang umzusetzen“, so auffällig unterschritten wurde. Denn bei aller Perfektion im Spiel, beachtlichen Stärkegraden fff wie ppp und so fort: Was sich gleichermaßen nicht einstellen mochte, das war ein Klang, ein eigener einnehmender Orchesterklang aus einem Atem und Guss, was etwa 80 Spitzenstreichern eigentlich mühelos gelingen sollte – mit einem anderen Dirigenten oder Trainingsleiter ja vielleicht.
Das Hausorchester der Berliner Philharmonie jedenfalls schafft das an seinen besten Tagen ganz prima. Und manch eine Staats- und Stadtkapelle an den ihren auch. Aber vielleicht haben die alle ihre besten Tage bald, ob früher oder später, hinter sich dank eines womöglich nicht ungewollten, auf alle Fälle aber nicht unabwendbaren Niedergangs öffentlicher Finanzen und gleichfalls der regionalen Vielfalt vor lauter globalen Ansprüchen. Dann drohen uns Vermächtnis und Fluch der Global Heads von Perm bis Fuschl, der Deregulatoren auch der 50+1 Regel: investorengestützte totalitäre Überwältigungsästhetik, ein TikTok-Stakkato lauter herausragender Momente, wie geschaffen für eine koffeinsüchtige Wahrnehmung mit kürzesten Aufmerksamkeitsspannen zwecks weiteren Energizer-, Medien- und sonstigen -konsums. Als Lebenszeit treibt, was derart Flügel verleiht, die Leihgebühr gnadenlos ein.
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