In der letzten Zeit beschäftige ich mich mit Sport, vor allem mit Laufen und Fitnesstraining. Schon lange war mir klar, dass zum Beispiel das Schreiben einer Oper und ein Marathonlauf viel gemeinsam haben: Man muss ein absurd weit entferntes Ziel fest im Blick haben und sich stetig darauf zu bewegen. Hierbei ist es einfacher, von Schritt zu Schritt zu denken und sich auf die aktuelle Laufgeschwindigkeit zu konzentrieren, als sich ständig Gedanken über die Größe des Unterfangens zu machen. Jeder Schritt auf das Ziel zu ist ein Erfolg, selbst wenn das Ziel noch fern ist.
Aber es gibt noch mehr Analogien: Sowohl Laufen als auch Fitness kennen das, was man „bewusste Überforderung“ nennt. Ein Muskel bildet sich nur dann aus, wenn das existierende Muskelgewebe bis zur Maximalleistung gefordert wird. Das bedeutet quasi Muskelversagen – ich hebe immer schwerere Hanteln, bis ich es einfach nicht mehr schaffe, nur dann werde ich stärker.
Dasselbe gilt für Lauftraining – hierbei gilt es immer wieder, schneller zu laufen als einem lieb ist (sogenanntes „Intervalltraining“) und sich bewusst in den „anaeroben“ Bereich zu begeben, bei dem man komplett außer Puste ist, nur dann wird man sein Tempo steigern können. Das Scheitern gehört also zum Training, und selbstverständlich muss man auch trainieren, wenn man keine Lust hat.
Auf das Komponieren übertragen, entsteht daraus eine wichtige Weisheit: Wer nur dann komponiert, wenn er sich perfekt im „Flow“ fühlt, wenn die Sterne richtig stehen und alles wie von selber läuft, wird sich tatsächlich nie verbessern. Auch Kreativität ist ein Muskel, der trainiert werden muss. Man muss sich auch der gezielten Überforderung und dem „Unmöglichen“ stellen.
Es ist kein Zufall, dass die Komponisten in der Musikgeschichte, die am meisten „unter Druck“ standen – Bach mit seinen wöchentlich abzuliefernden Kantaten, Mozart mit seinem gigantischen Auftragspensum sowie der nie nein sagen könnende Schostakowitsch –, auch die beeindruckendsten handwerklichen Fähigkeiten entwickelten. Je mehr sie überfordert wurden, desto besser wurden sie tatsächlich; je schneller sie komponieren mussten, desto leichter ging es ihnen von der Hand.
Daher ist es mir lieber, dass Studenten etwas Misslungenes oder noch nicht Perfektes mitbringen, als wenn sie gar nichts mitbringen. Der Läufer, der stolpert, wird den nächsten Schritt bewusster setzen, das Stolpern gehört also dazu, um ein besserer Läufer zu werden. Genauso ist es beim Komponieren: Wenn ich alles endlos abwäge und mich nie entscheiden kann, werde ich meine Fähigkeiten nie erweitern. Man muss schreiben können, wenn die Deadline schon fünf Tage vergangen ist, wenn einem nichts einfällt, wenn man keine Lust hat, wenn man mit den eigenen Einfällen unzufrieden ist. Gerade dann muss man schreiben, gerade dann ist man überhaupt erst Komponist.
Und wem das jetzt zu rigide klingt: Das Sporttraining kennt auch Entspannungsphasen. Man muss das Leben auch genießen können, an etwas anderes denken, Abstand gewinnen. Man sollte sich nicht ständig wegen eines kompositorischen Problems martern, sondern auch mal herumgammeln und feiern können. Die richtige Balance zwischen absoluter Überforderung und absoluter Entspannung zu finden, ist die wahre Herausforderung eines Künstlerlebens und täglich muss eine neue Balance gefunden werden. Diese zu thematisieren, ist ebenso Teil des Kompositionsunterrichts wie das Behandeln von Problemen des Tonsatzes, der Notation und der Orchestration.