Was darf Satire? Alles! Was dürfen die Medien? Ziemlich viel. Was darf Satire in den Medien? Die Antwort gibt die Praxis. Die Selbstkontrolle scheint zu funktionieren, und wer sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze hält, macht es eben auf eigene Gefahr, siehe Charlie Hebdo.
Früher gab es noch irgendwelche Gerichtsprozesse gegen Satiriker, wenn als unantastbar geltende Institutionen in Frage gestellt wurden. Heute wird kurzer Prozess gemacht von denen, die sich als Verteidiger des einzig noch Unantastbaren ausgeben. Nicht ohne Erfolg. Zwölf Tote sind ein schlagendes Argument gegen vorlaute Meinungsäußerungen.
Zum Glück bieten sich ungefährliche Alternativen an: Bischöfe, Seehofer oder ein Mittelfinger. Während Karikaturen von Bischöfen und Seehofer inzwischen routinemäßig langweilen, ist die Mittelfingeraffäre zum Scoop des Jahres geworden. Einer der Gründe ist sicher der Gegenstand: eine Nichtigkeit, die zur Staatsaffäre hochgejazzt wurde. Der Hauptgrund für den Erfolg der Satire liegt aber zweifellos in ihrer Machart. Sie entfaltete eine Rundumwirkung, die zwischen Gut und Böse, wie es ausgelaugte Fernsehkabarettisten zelebrieren, nicht unterschied und am Schluss alle Beteiligten gleichermaßen bedeppert dastehen ließ. Neben dem Ankläger Jauch und dem Angeklagten Varoufakis waren das vor allem die Medien; sie mussten täglich ihre Meinung wechseln und einmal die eine und dann wieder die andere Seite verdammen respektive rehabilitieren.
Es war eine neue, gefährliche Sorte von Satire, eine mit mehreren Verzögerungszündern, und dass sie von einem gewieften Mediendarsteller wie Jan Böhmermann kam, der vom ZDF als eine Art Hofnarr gehalten wird, macht die Sache noch pikanter. Ohne hohen technischen Aufwand und perfektes Knowhow hätte der Fake, der den griechischen Mittelfinger mal wegzauberte und dann wieder hineinmontierte, nicht produziert werden können. Die biederen Strichmännchen, mit denen die netten Linken von Charlie Hebdo ihr Weltbild artikulieren, sind Symbole der untergehenden Analog-Ära. Böhmermanns Mittelfinger-Fälschung – denn ein Fake war sein Beitrag, nicht das Original – basiert hingegen auf den neuesten medientechnischen Standards. Ihr gehört die Zukunft.
Und damit wird die Sache brisant. Der Wirklichkeit der Bilder glauben die Menschen bekanntlich viel mehr als dem Wort. Dass diese Wirklichkeit heute in den Printmedien standardmäßig geschönt wird, weiß man, seit es Photoshop gibt; aber dass das auch mit den bewegten Bildern so problemlos geschehen kann, wie es Böhmermann nun auf witzige Weise demonstrierte, war offenbar für viele ein Schock. Glaubten sie doch, dass alles, was vom Bildschirm flimmert, auch tatsächlich so passiert ist. Man sieht es doch mit eigenen Augen!
In der Musik ist man da schon längst weiter. Es ist kein Geheimnis, dass die klingende Wirklichkeit und ihr mediales Abbild im Lautsprecher weit auseinanderdriften können. Schon in der Frühphase der Digitalisierung war es möglich, bei einer Klavieraufnahme je nach Bedarf Pedaleffekte zu verlängern und zu verkürzen oder unreine Höhen in einer Gesangspartie durch digitale Nachbearbeitung sanft zu korrigieren. Was angeblich auch schon 1981 bei der Münchner Tristan-Produktion unter Bernstein mit der Brangäne-Partie geschah. Heute gehört das zum Alltag, besonders in der Popmusik. Was man hört, ist in der Regel das Resultat komplexer Produktionsvorgänge, bei denen die unterschiedlichsten Aufnahmewirklichkeiten zu einem schlüssigen, als „authentisch“ empfundenen Gesamtbild zusammengemixt werden.
Nun ist also auch das Fernsehbild in der digitalen Wirklichkeit angekommen.
Böhmermanns gerissene Aktion hat vielen die Augen geöffnet, aber auch ungute Gefühle geweckt. Wenn es so leicht ist, ein politisch heikles Video zu manipulieren, dann wird es für die audiovisuellen Medien schwieriger, ihre Glaubwürdigkeit zu behaupten. Ein weites Feld für die Medienkriege der Zukunft.