Das Fernsehen ist immer dann am besten, wenn ihm vorübergehend die Kontrolle über die Inszenierung entgleitet. Dann machen sich auf dem Bildschirm blitzschnell Anarchie und Mystik breit. Letzteres passierte am Abend des 2. April, als der Papst gestorben war.
Die Nachricht hatte sich schon inoffiziell verbreitet, und nun warteten die Kamerateams zusammen mit der Menschenmenge auf dem Petersplatz auf die offizielle Bestätigung. Kurz nach zehn trat einer der Männer in Violett vor das Mikrofon. Er bestätigte den Tod mit wenigen Worten. Und dann begann er zu singen. Halleluja.
Moment mal, dürfte sich da mancher Journalist gefragt haben, ist das alles? Keine weiteren Erklärungen und Hintergrundinfos, kein Futter für die Medien? Bei der Bundespressekonferenz läuft das aber anders, da wird nicht gesungen!
Schlagender lässt sich der Unterschied zwischen weltlichem und geistlichem Amt nicht demonstrieren, zwingender auch nicht die Tatsache, dass Worte angesichts des Todes sinnlos sind. Die Besinnung währte indes nur kurz. Nach einem Moment erholten sich die TV-Moderatoren aus ihrer Verblüffung und gossen wieder ihr verbales Ketchup über die Live-Bilder aus Rom. Womit das Fernsehen wieder alles im Griff hatte. Die befremdliche Tatsache, dass jemand singt, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen, war beseitigt.
An Gesängen bei Begräbniszeremonien aus Indien und Afrika erfreut sich unser Touristengemüt. Die Wilden singen halt gern. Aber wir selbst als Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft? Wir lassen singen. Dafür stellt uns ja die Industrie ihre mp3-Songs und Surroundanlagen zur Verfügung. Falls wir stimmliche Äußerungen nicht lieber gleich durch den Tonhöhenfilter der Rap-Deklamation schicken.
Singen als Schulfach ist heute mega-out, und als kultische Handlung wird es in seiner Symbolik von der Mehrheit schon gar nicht mehr verstanden. Mit dem Sinn für Transzendenz scheint der säkularisierten Gesellschaft auch diese elementare Art des Menschen, sich andern mitzuteilen, abhanden gekommen zu sein. Die Erfindung der Oper wäre unter den heutigen Bedingungen nicht mehr möglich.
Doch da war ja noch dieser Bischof, der sich vor die Weltöffentlichkeit hinstellte und mit seinem Gesang ein Fenster zu einer andern Wirklichkeit öffnete. Plötzlich erinnert man sich an die Rede Luigi Nonos von den „altri spazi“ und an sein zweites Polnisches Tagebuch mit den emblematischen Titelworten von Welemir Chlebnikow, „Quando stanno morendo“ – „Wenn sie sterben, singen die Menschen.“
Beide Male der Tod als Anlass des Gesangs, beide Male dieselbe symbolische Geste, wenn auch in anderem Zusammenhang. In Nonos entmaterialisierten Vokallinien scheint noch etwas von der alten kultischen Funktion des Singens anzuklingen; sie wurzeln offensichtlich in derselben Tradition wie das Halleluja des Bischofs. Hat die viel beschworene Faszinationskraft seiner Vokalkompositionen vielleicht etwas damit zu tun? Oder woraus erklärt sich eigentlich ihre Aura?
Leichter zu erklären ist der Titel „Diario polacco“. Nono, mehrfach zu Gast in Polen, protestierte mit dem Stück gegen das Kriegsrecht von 1981, und Text und Musik sprechen eine deutliche Sprache. Aber dass er diesen politischen Protest unter anderem durch musikalische Symbole der Transzendenz ausdrückte, ist irritierend und wird gern ignoriert. Sollte er etwa die Triebkräfte des polnischen Widerstands in seiner künstlerischen Intuition besser verstanden haben, als er es – auch noch nach seinem Streichquartett – als idealistischer „alter Linker“ zugeben mochte? Auch an diese Frage hat der Gesang des Bischofs auf dem Petersplatz erinnert.
Einstweilen muss man sich mit der Auskunft begnügen, die das Werk selbst gibt. Doch eines ist sicher: An allen weiteren Antworten wird der Tote im Vatikan mitschreiben. So viel Politik muss sein, auch beim späten Nono.