Erster Platz: Anna Netrebko, Russian Album. Dritter Platz: Anna Netrebko, Rolando Villazón, Plácido Domingo: Das Waldbühnenkonzert. Vierter Platz: Anna Netrebko, Rolando Villazón: Arien und Duette aus „La Traviata“. Sechster Platz: Anna Netrebko, Claudio Abbado: Sempre libera. Siebter Platz: Anna Netrebko, Thomas Quasthoff, Bryn Terfel: Das Mozart-Album. Neunter Platz: Anna Netrebko, Rolando Villazón: Donizetti, „Der Liebestrank“.
Da sage noch einer, Klassik auf CD sei out. Auf der „Klassik Bestseller“-Liste des Kultur-Spiegel (einer Monatsbeilage des Hamburger Magazins) vom 30. Dezember steht sechsmal „die bildhübsche, schauspielfrohe Goldkehle aus St. Petersburg“. Dazwischen weitere Glamourfiguren aus der Luxusetage des Musikbetriebs: Lang Lang, Hillary Hahn, Simon Rattle oder Sting, der mit seinem ausdrucksgeplätteten Dowland-Gesang all jene beeindruckt, die mit dem Namen Dowland bisher eine Londoner Shopping Mall assoziiert haben. Was die Medienstars spielen und singen, ist eigentlich egal. Komponistennamen und Werke werden auf der Liste nur rudimentär genannt. Bevorzugt werden Angaben wie „Das Mozart-Album“, „Händel-Arien“ oder einfach „Voice of the Violin“.
Die Dominanz der Interpreten über Komponisten und Werke ist nahezu absolut geworden. Das erstaunt nicht angesichts des schwindenden historischen Bewusstseins eines Publikums, das mehr und mehr zu Klassiskfans mutiert. Für sie ist Eventkultur eben weniger anstrengend als das Nachdenken über den Geist vergangerer Epochen. Dafür haben sie weder Zeit noch Interesse. Sie halten sich lieber an die Bestsellerlisten im Kultur-Spiegel.
Diese werden laut Fußnote im Auftrag des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft e.V. ermittelt, dem alle großen Ton- und Bildtonträgerfirmen angehören. Mit einer effizienten Öffentlichkeitsarbeit sorgt er dafür, dass die potenziellen Topseller zu Topsellern werden und es auch eine Zeitlang bleiben.
Sein wirksamstes Werbemittel ist der Echo-Klassik-Preis, der alljährlich mit viel Pomp und Trara, unter Mitwirkung von schillernden Prominenzen aus dem Showgeschäft an Interpreten aus über zwanzig Musiksparten verliehen wird. „2.000 Klassikliebhaber im Münchner Gasteig und 1,99 Mio. Zuschauer der ZDF-Show ,Echo der Stars’ feiern die Künstler“, meldete die Phono-Akademie nach der Preisverleihung im letzten Oktober.
Zum Geschäft gehört, dass sich Preisgeber und -empfänger gegenseitig zum nationalen Ereignis hochloben. „Danke Deutschland für den Echo. Das ist der Beste“, sagte Bryn Terfel, „Sänger des Jahres“ 2006. Dazu gehört auch, dass die Jury sich vorwiegend aus Persönlichkeiten aus dem Veranstaltungsbusiness sowie aus dem Umfeld der Phono-Akademie selbst zusammensetzt. Die Musikindustrie verleiht sich also gewissermaßen die Preise selbst. Zweck ist die Ankurbelung des Absatzes. Und das funktioniert reibungslos: Sängerin und Sänger des Jahres 2005 waren Anna Netrebko und Rolando Villazón, just diejenigen, die heute die Bestseller-Liste anführen. Gute Arbeit, Phono-Akademie!
Bei der klaren kommerziellen Ausrichtung des Preises und des hinter ihm stehenden Verbands sind das legitime Methoden. Nur hat es mit dem inhaltlichen Anspruch der Musik, ihrem humanistischen Gehalt, nichts mehr zu tun. Mozart als Künstler und Mozart als Verkaufshit sind zwei Seiten einer Medaille. Doch das dringt offenbar nur noch mit Mühe ins Bewusstsein, denn es gehört zum Wesen der Warenproduktion, dass der Unterschied von Gebrauchswert und Tauschwert verwischt wird. Im schönen Schein der Medienwirklichkeit gelingt das besonders gründlich.
Aus der Sicht der Neuen Musik wird das Bestseller-Unwesen gern als kunstfernes Geschäft angeprangert, nicht ohne den Hinweis, dass es in der eigenen Branche doch ganz anders sei – hier gehe es um die selbstlose Suche nach dem „radikal Neuen“ und nicht ums Geldmachen. Letzteres funktioniert in der kapitalschwachen Neue-Musik-Szene in der Tat nur begrenzt und nur für Wenige. Trotzdem gleichen sich die Mechanismen, wobei hier vor allem die Komponisten am Spiel beteiligt sind. Auch hier gibt es eine Konzentration auf eine überschaubare Gruppe von Favoriten, die stets wieder zum Zug kommen, egal was sie produzieren: Komponisten, die in Symbiose mit den marktgängigen Interpreten die Festivalformate bedienen, die auf einen festen Platz im Veranstalterkarussell abonniert sind und ihr „Materialverständnis“ als wiedererkennbares Markenzeichen vor sich her tragen. Und sind sie einmal Professoren, so trimmen sie auch ihre Schüler auf geschäftskompatibles Verhalten.
Komponiert werden längst nicht mehr die großen Ideen, von denen neue Musik einst ihre Legitimation bezog, sondern kleine Einfälle zur Festigung von Image und Marktposition. Veranstalter und Kritik halten das Geschäft gemeinsam am Laufen, und weil alle an einem Strick ziehen, werden auch die launischen Konsumenten nicht verunsichert und die Subventionen nicht gefährdet. So wird neue Musik zum Life-stileprodukt wie die Netrebko. Nur mit dem Unterschied, dass bei dieser der Spaßfaktor entschieden höher liegt.