Jeder Technologiefortschritt schiebt seine Bugwelle in Gestalt von Spekulationen über seine Auswirkungen auf Lebenswelt und geistigen Überbau vor sich her. Was vor hundertachtzig Jahren in der Epoche von Dampfmaschine und Eisenbahn das „Dampfross“ war, das für Faszination und Schrecken sorgte, ist heute der Computer. Und wie damals ist auch heute der Blick auf das neue Medium mit den wunderlichsten Schlussfolgerungen, Vermutungen und Zukunftsperspektiven verbunden. Dieser Eindruck drängt sich auch auf bei dem im Wolke Verlag erschienenen Buch „Musik, Ästhetik, Digitalisierung“, in dem Johannes Kreidler, Harry Lehmann und Claus-Steffen Mahnkopf die Konsequenzen der Digitalisierung für das Komponieren diskutieren. Dass dies in Form einer Kontroverse mit Text, Replik und Duplik geschieht, sorgt für Lebendigkeit, aber auch für Unbehagen: Für die Drei ist die Versuchung groß, sich als kleine Schaudenker in Szene zu setzen und dem Lesepublikum mit eitlen Selbstzitaten und rhetorisch aufgeplusterten Binsenweisheiten zu imponieren, nach dem Muster: „Bei aller Vieldimensionalität der Musik ist der Klang ihr Dreh- und Angelpunkt.“ Doch ist der Trialog auch aufschlussreich, denn er zeigt, zu welch zugespitzten Meinungen das Eindringen des Computers ins Komponierhandwerk führt.
Dem hegel- und luhmanngestählten Systemdenker Lehmann schwebt die ultimative Musikdatenbank vor, in der alle denkbaren Klangkombinationen, Farben und Artikulationen gespeichert und nach Wunsch abrufbar sind. Das Komponieren würde dadurch zum grenzenlosen Spiel mit dem Klangbaukasten – eine richtig schöne Männerdomäne wie einst das genialische Basteln mit Legosteinen und Zwölftonreihen. Das ist technisch vermutlich irgendwann machbar und theoretisch begründbar – aber zum Hören so bekömmlich wie ein Sortiment von chemischen Nahrungsmittelpillen. Lehmann ist gegen das Tabuisieren von Fragen. Dann sollte er sich aber auch fragen, welchen Wert, außer dem einer Projektstudie für die Industrie, seine technizistischen Denkfiguren haben, wenn es um etwas so Sinnlich-Konkretes wie die Musik geht.
Der vom Internet hingerissene Johannes Kreidler stimmt ebenfalls das Lied von der totalen Verfügbarkeit an. Mehr gewiefter Intellektueller als Künstler, betreibt er mit Oberbegriffen ein virtuoses Hütchenspiel. So operiert er mit Luhmanns Medium-Form-Relation, vertauscht munter den Begriff Medium mit dem des Materials und recycelt dabei die alte Meinung, alles Gegebene sei „Material“ für das Komponieren. Neu ist allerdings seine Forderung, und da geht er mit der anonymen „Community“ konform, dass alles für alle frei verfügbar sein müsse. Er illustriert das mit seinen computergestützten Konzeptstücken; einmal will er der GEMA die Absurdität ihres Tuns vor Augen führen, ein andermal entlarvt er die Ausbeutung der asiatischen Computerarbeiter via Internet. Typische Themen für Zeitungsartikel, aber fürs Hören hochgradig uninteressant.
Hier zeigt sich der Typus des digitalen Klangjongleurs, der wie einst der analoge Schlingensief alles mit allem in Beziehung setzt und dadurch im Tagesgeschäft reihenweise staunende Gesichter hervorruft. Aus dem dank der neuen Speichermedien gigantisch gewachsenen Fundus der toten Kulturgüter neue Wahrnehmungsoberflächen hervorzaubern: Das kann man im Sinn des technischen Fortschritts als „neu“ bezeichnen, man kann es aber auch sehen als Triumph des ressourcenverschlingenden Konsumismus, der meint, mit unangestrengtem Recycling Mehrwert schaffen zu können.
Das von Kreidler gelobte Prinzip des Klauens anderswo geschaffener Werte entlastet von der Anstrengung der eigenen schöpferischen Arbeit. Sein Vorbild hat es in der Realwirtschaft, denn genau nach dieser Methode haben die PIIGS-Staaten den Euro entwertet und die Finanzjongleure das Bankwesen beinahe ruiniert. In der symbolischen Sphäre der Kunst, die bekanntlich frei ist, ist alles erlaubt, und so findet auch jeder kleine Madoff seine Bewunderer, die ihn als ein den Kapitalismus schädigendes Schlitzohr verehren. Nachhaltiges Denken aber sieht anders aus.
Einwände gegen solche Verabsolutierungen der technischen Möglichkeiten kommen in dem Buch nur von Mahnkopf. Der frühere Propagandist des Komplexismus outet sich hier als ein überzeugter „analoger“ Komponist, der zwar den Computer nicht ablehnt, aber seine Rolle im kreativen Prozess kritisch relativiert haben möchte. Zu Recht, denn jede Art von Maschinengläubigkeit macht betriebsblind. Man sollte sich stets das Beispiel der Futuristen vor Augen halten; diese Auto- und Flugzeugnarren begannen als lärmige Fortschrittspropheten und endeten als jämmerliche Mussolini-Verehrer.
Sich als Speerspitze des Fortschritts zu gebärden ist überdies manchmal tückisch, denn schnell kann man einem Déjà-vu-Effekt aufsitzen und merkt es nicht einmal. So auch Lehmann.
Er bewertet ein Bonner Schachturnier von 2006, in dem der Computer „Deep Fritz“ den Schachweltmeister Kramnik 4:2 besiegte, als historische Zäsur und nimmt das als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Doch das originale Turnier fand bereits 1996 statt. Damals besiegte der IBM-Computer „Deep Blue“ den Weltmeister Kasparow. Zehn Jahre sind für die digitale Welt eine kleine Ewigkeit. Soviel zur Aktualität der vorliegenden Texte.