In dem Comic „Sandman“ von Neil Gaiman gibt es einen Bibliothekar, der die nie geschriebenen oder nie vollendeten Bücher der großen Dichter verwaltet. Diese Bibliothek enthält natürlich wesentlich mehr Bücher, als diese Dichter tatsächlich geschrieben haben.
Das Prokrastinieren, oder vielmehr das Auf-Ewig-zur-Seite-Legen ist auch für Komponisten typisch. Auch ich habe natürlich dutzende solcher „Unvollendeten“, darunter ein gigantisches, auf 2-Stunden-Länge geplantes Oratorium mit dem Titel „Das Licht am Ende des Tunnels“, das ich monatelang zu Wilhelm Killmayer schleppte, in einer riesigen A-1-Zeichenmappe. Am Ende taten meine Arme so weh, dass ich das Stück einfach aufgab. War vielleicht auch besser so.
Ich kann gar nicht mehr aufzählen, wie oft ich später wiederum als Lehrer an solchen „Phantomstücken“ von Studenten gearbeitet habe, Stücken die nie sein sollten und nie real wurden. Manche dieser Stücke gedeihen erst einmal recht weit, erreichen fast die Ziellinie, um dann kurz vor Schluss liegen gelassen zu werden. Manche wiederum werden voll Enthusiasmus begonnen, mit einer über mehrere starke Seiten reichenden Energie, um dann so plötzlich wie heftig gegen eine unsichtbare Wand zu fahren.
Besonders beliebt sind natürlich die sogenannten „Stückpläne“. Diese geisterartigen Stücke tauchen immer dann im Unterricht auf, wenn der Student gerade in dieser Woche nichts Richtiges zustande gebracht hat. Da wird dann in eine Handvoll Akkorde und zwei, drei versprengte Tönchen eine ganze Welt hineininterpretiert. Manche Studenten laufen bei diesen Noch-Nicht-Stücken zu Höchstform auf: Stundenlang können sie einem erzählen, was in diesen Stücken alles passierte, wenn sie sie denn einmal schrieben. Als Kompositionslehrer legt man sich dann mächtig ins Zeug, gibt den einen oder anderen Tipp, warnt vor Abgründen und Gefahren, gibt Instrumentationshinweise, all dies über ein Stück Musik, das es noch gar nicht gibt. Manche dieser Stücke mäandern über mehrere Wochen im Protozustand, werden aber nie begonnen, denn dann würden sie sofort aufhören zu existieren.
So schnell wie es kam, ist das Geisterstück verschwunden, denn schon in der nächsten Woche taucht derselbe Student selbstbewusst mit einem neuen Stück auf, das er dann auch tatsächlich fertig schreiben wird. Da man als Kompositionslehrer nur schwer Tagebuch über die vielen Aktivitäten der Studenten führen kann, hat man das unvollendete Stück meist selber vergessen, oder spricht es einfach aus Höflichkeit nicht mehr an. Irren und liegen lassen ist menschlich, und manchmal ist es auch ganz gut, wenn Dinge liegen gelassen werden. Nicht alles muss gnadenlos ausgeführt werden, das Glück der Kinder besteht darin, diesen inneren Zwang des Vollendens nicht zu kennen.
Die Phantomstücke sind daher ein wenig wie flüchtige Träume, die einem helfen, das wirkliche Leben beziehungsweise Komponieren zu bewältigen – Träume sind wenig greifbar – würde man sich detailliert an sie erinnern, wäre ein Teil ihres Zaubers dahin. Daher müssen die Phantomstücke letztlich vage bleiben, denn sie stellen nichts weiter dar, als ein Durchspielen von Möglichkeiten. Bevor man sich entscheidet, durch die eine, dann richtige Tür zu gehen, muss man in die anderen zumindest kurz hineingeschaut haben. Auch wenn viele Studenten sich vielleicht für diese „Unvollendeten“ schämen, sie sind genauso wesentlicher Bestandteil des Unterrichts wie das Konkrete und Fertige. Denn an eines glaube ich ganz dezidiert: Komponisten, die nicht träumen ... sind keine guten Komponisten!