Wer gewählt werden will, muss sich zeigen. Luhmann, der große, anachronistische Weltgeist der Jahrtausendwende, und einige andere haben festgestellt, dass überhaupt nur der existiert, der in den Medien vorkommt. Esse est percipi, sein heißt wahrgenommen werden, hieß das schon ein paar Jahrhunderte früher, am Beginn der Moderne, beim Bischof Berkeley.
Weil aber, nach dieser sehr speziellen Logik, alles im Auge des Betrachters liegt, zählt nicht so sehr die Sache, um die es angeblich geht, sondern die Inszenierung und wie sie ankommt. Der wahlkämpfende Politiker wird so zum Künstler, ja zum Musiker, der vor allem auf den Sound seiner Botschaften achten muss. Der Ton macht dann die Musik und es kommt darauf an, wie das Ganze klingt.
Gerd Schröder ist bekanntlich ein begabter Tonmeister. Und man kann schon verstehen, dass „Angie” Merkel das intime Kammerspiel vor Fernsehkameras scheut. Als Bayreuth-Kennerin weiß sie, dass Götterdämmerungen überaus vertrackte Angelegenheiten sind. Edmund Stoiber dagegen, seit 2002 waidwund, tut so, als sei er Hagen von Tronje höchstpersönlich und könne jeden zur Strecke bringen, der sich ihm stelle. Seine engsten Berater konnten ihn nur mit Mühe davon abbringen, den Fernseh-Showdown mit dem Saarland-Siegfried respektive -Napoleon Oskar Lafontaine zu suchen.
Alte Recken und junge Helden finden sich in diesen schicksalsschwangeren Zeiten freilich zuhauf, auch und gerade in der Kunstszene. Grass zum Beispiel, Nobelpreisträger, praeceptor germaniae und Retter der Sozialdemokratie, hat eine wackere Schar, von Peter Rühmkorf bis Julie Zeh, hinter sich versammelt, vermutlich um Heuschrecken und anderen mythischen Bestien Paroli zu bieten. Vielleicht feiert er aber auch nur sein eigenes, nun schon mindestens 40 Jahre währendes Engagement; oder den 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre, den Erfinder und Verkörperer des engagierten Intellektuellen, der möglicherweise nicht alles weiß, aber unter alles, was gut klingt, seine Unterschrift setzt.
In wessen Namen spricht Grass (oder gar Julie Zeh), könnte man fragen. Er selbst würde vermutlich, wahrheitsliebend wie ein Politiker, sagen: nur in seinem Namen, als Bürger Grass. Würde dieser Bürger Grass aber Meier oder Müller heißen, würde seine Meinung nicht weiter interessieren. Er zehrt, wenn er Partei ergreift, von seinem Ruhm als Schriftsteller. Während man einen berühmten Boxer, wenn er sein politisches Statement abgibt, belächelt, lauscht man dem Poeten mit einer gewissen Ehrfurcht, wenn er sich zu Dingen äußert, von denen er so viel oder so wenig versteht wie jeder andere auch.
Grass – und er steht hier nur stellvertretend, pars pro toto – ist leider selbst im hohen Alter weit von der Weisheit eines Jean-Luc Godard entfernt, der einst sagte, es käme nicht darauf an, politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen. Also nicht Meinungen abzusondern, die so beliebig sind wie die Meinungen aller anderen, sondern zu erforschen und zu zeigen, wie das Filmemachen funktioniert. Also zuerst und vor allem: nicht den Bildern auf den Leim zu gehen, sondern sie zu analysieren, sie durchsichtig und handhabbar zu machen. Ein politischer Filmemacher wäre also einer, der die Wahrnehmung schult – und gegen Lügen und Suggestionen immunisiert. So wie ein politischer Musiker einer wäre, der einen hellhörig macht; am besten gegen alle falschen Töne.
Das erschien aber den großen Komponisten und Dirigenten als zu bescheiden – oder zu schwierig. Lieber wollten sie, wie Pierre Boulez, die Opern in die Luft sprengen, bevor sie sich dann doch mit den großen Häusern arrangierten. Oder sie gingen, wie Luigi Nono, in das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und in die Fabrik. Oder sie leisteten, wie Henze, Kärrnerdienste in der musikalischen Provinz; was vergleichsweise sinnvoll war, was aber auch Herr oder Frau Jedermann hätten erledigen können.
Das naheliegendste Missverständnis, wenn es um Künstler und die Politik geht, ist das „inhaltistische”, wie es einst Brecht nannte. Als müsse man, wenn man die Welt retten wolle, nachts um halb fünf vor Fabriktoren stehen, in die Partei eintreten oder zumindest eine Wählerinititative gründen; oder, wie es bei Komponisten von John Adams bis Franz Hummel der Fall ist, Schlüsselszenen der Weltgeschichte vertonen. Solange aber ein Komponist nach einem politischen Stoff sucht, solange ist er kein politischer Komponist, sondern höchstens ein Windmacher oder Windbeutel, einer, der sein Fähnchen nach dem Wind hängt und sich und seinem Publikum einreden möchte, er sei der große Sturm.
Es waren, das vergessen die „politischen” Intellektuellen gern, die Despoten aller Zeiten, die Engagement verlangten, eine Parteinahme für die gute Sache. Die Weltretter und Heilsexperten waren immer schon die Maestri des großen Pathos. Die Kunst aber besteht nicht darin, möglichst virtuos in das Horn zu blasen, an dem sich alle zu schaffen machen, sondern für Dissonanz, Differenz, Dissidenz zu sorgen. Und manchmal, wenn’s zur nationalen Parade kommt, sollten sich die Künstler so verhalten wie das Kind in Andersens legendärem Märchen und schlicht sagen, was Sache ist: „Der Kaiser ist ja nackt.”