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Moritz Eggert. Foto: Juan Martin Koch

Moritz Eggert.

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Die verlernte Sprache

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Absolute Beginners 2024/06
Vorspann / Teaser

Ich bin ein glühender Verfechter der Idee, dass in Musik alles möglich ist und dass es keinerlei allgemeine Regeln gibt, die für alle Musik der Welt gelten sollten. Ich führe erbitterte Diskussionen mit Menschen, die behaupten, dass die abendländische Interpretation der Obertonreihe mit braven Dominanten und Subdominanten die einzig „richtige“ sei, weil ich das unendlich arrogant und viel zu simpel finde. Nur ein flüchtiger Blick auf die Musikkulturen dieser Welt zeigt, dass es da viele andere Möglichkeiten gibt. Und überhaupt Obertonreihe: die ist auch nur ein akustisch-physikalisches Phänomen, keineswegs ein sklavischer Zwang. Wir malen ja auch nicht nur in den Primärfarben des Regenbogens. 

 

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Selbst ein simpler Mollakkord ist schon eine Konstruktion, die so in der Obertonreihe nicht vorkommt, auch wenn Tausende von konservativen Konzertbesuchern dahinschmelzen, wenn ein Pianist genau diese Akkorde bei einem Chopin-Konzert spielt. „Wie schön“, seufzen sie dann, in der festen Überzeugung konsonant „tonale“ Musik zu hören, dabei kennt zum Beispiel Zwölftonmusik überhaupt keine „Dissonanz“, da alle Intervalle gleichberechtigt behandelt werden, ganz anders als bei Mozart, der ständig Dissonanzen genial verwendet.

Wie auch immer: Musik ist unendlich reich. Aber es ist klar, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche „Grammatiken“ verwenden, die in diesen Kulturen dekodiert werden können. Die meisten indischen Hörerinnen können zum Beispiel die komplexen rhythmischen Signale des Tabla-Spielers verstehen, die dieser bei einem Konzert an seine Mitstreiter sendet, für ungeschulte westliche Hörer klingt das dagegen alles wie „improvisiert“, vielleicht sogar langweilig meditativ.

Aber genau wie bei Sprachen, können musikalische Codes von Außenstehenden erlernt werden. Je mehr man sich „einhört“, desto mehr versteht man, wie diese Musik „tickt“. 

Musikethnologie ist ein großes und faszinierendes Feld, und kann sogar im eigenen Land betrieben werden. Denn wer in Deutschland kennt zum Beispiel wirklich noch die ungemein reiche Volksmusiktradition unserer verschiedenen Regionen, die nicht im Geringsten etwas mit der „volkstümlichen“ Musikpampe zu tun hat, die uns im „Musikantenstadl“ um die Ohren gehauen wird? 

Was hat das alles nun mit Kompositionsunterricht zu tun? Mit einer Frage, die neulich im Unterricht auftauchte. Die Frage ist folgende: Wenn man ursprüngliche Arten asiatischer Musik aus zum Beispiel China, Japan oder Korea kennt, weiß man, dass hier komplexe Mikrotonalität und Rhythmik eine große Rolle spielen. Zuweilen ist die Musik auch dezidiert „pointillistisch“, kennt wenige Akkorde oder harmonische Modulationen, dafür eine sehr komplexe Einstimmigkeit, die an Nuancen über das hinausgeht, was in unseren Breitengraden bekannt ist. Ein Komponist wie Stockhausen hat sich daher sehr für asiatische Musik interessiert und kam deren Topoi in vielen seiner Werke sehr nah.

Und nun die Frage: Wenn es eindeutig so ist, dass der Weg von einem Stockhausen-Stück zu einem Werk asiatischer Musik viel geringer ist als von zum Beispiel einem Bachchoral zu derselben… warum erlebt dann zeitgenössische Musik in Asien dieselben Ressentiments und Vorbehalte wie oft auch bei uns bei einem konservativen Publikum? Warum beschäftigen sich nur die wenigsten asiatischen Kompositionsstudierenden in Deutschland mit ihrer eigenen musikalischen Kultur, sondern imitieren dagegen (oft auf sehr hohem Niveau) eher die abendländischen zeitgenössischen Stile, die wir teils als schon überkommen betrachten? Die Antwort meiner asiatischen Studierenden war: weil auch sie schon im kindlichen Alter vornehmlich westliche Musik hören, und ihre eigene Musik nur bei bestimmten – zum Beispiel – religiösen Anlässen oder Feiertagen erklingt. Hier hat also eine musikalische Grammatik (unsere) eine andere verdrängt bis hin zur Mimikry. Im Falle Chinas ist das sogar nur wenige Jahrzehnte her (nachdem man in der Kulturrevolution sowohl die eigene wie auch die abendländische Musik verbot).

Wären wir arrogant (was wir nicht sein sollten), könnte man argumentieren, dass die abendländische musikalische Grammatik die „effizientere“ ist. Aber ich glaube, diese Antwort ist grundfalsch und eben dies: blind gegenüber den Möglichkeiten von Musik. Wie auch immer eine Antwort ausfällt (man kann mir gerne deswegen schreiben!), ist es wohl klar, dass musikalische Idiome nicht nur erlernt, sondern auch verlernt werden können, wenn sich eine Kultur dafür entscheidet. Und genau das kann auch uns geschehen, wenn wir unsere eigene musikalische Sprache nicht mehr als wichtig erachten.

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