Am 14. Mai konnte Aloys Kontarsky in Köln seinen achtzigsten Geburtstag feiern, Gelegenheit also für einen kleinen Rückblick auf vergangene Zeiten. Er und sein Bruder Alfons gehörten eine Zeitlang zur Kerntruppe der deutschen Nachkriegsavantgarde und waren für drei Jahrzehnte eines der führenden europäischen Klavierduos. Basis ihres Spiels war ein analytisches Partiturverständnis, große Stilkenntnis verband sich mit unerhörter technischer Leichtigkeit und einem schlackenreinen Klang. Bei Mozart, Schubert und Brahms waren die beiden musikalisch hochbegabten Brüder ebenso sattelfest wie bei Boulez, Stockhausen und Rihm. 1983 erlitt Aloys einen Schlaganfall, und die Erfolgsgeschichte war zu Ende. Als der Intellektuellere der beiden hatte er sich bis dahin auch als Solist stark auf die Neue Musik konzentriert. Bei den Darmstädter Ferienkursen gehörte er rund zwei Jahrzehnte lang zum inneren Kreis der Dozenten. Als Spezialist für das Unspielbare war er ein Tausendsassa am Klavier, als brillanter Analytiker und eloquenter Redner ein Mastermind der damaligen Avantgarde.
Das Klavierduo Kontarsky hat unzählige Uraufführungen gespielt, die beiden Brüder waren die pianistischen Wunderknaben der Avantgarde. 1959, im Alter von siebzehn und achtzehn Jahren, spielten sie bereits Strawinskys Konzert für zwei Klaviere, ein Jahr später unterrichteten sie zusammen in Darmstadt. Ihre Kenntnisse hatten sie sich im Wortsinn spielend erworben. Was sie konnten, wurde damals noch an keiner Musikhochschule gelehrt. „Wir haben den Kanon überhaupt erst herausgebildet, wie man so etwas aufführt“, sagte Aloys Kontarsky 1980 in einem Interview. Dieser Kanon ist auch heute noch gültig.
Das Alter erstaunt, in dem die beiden Brüder ins Rampenlicht traten. Doch war das damals keine Ausnahme. Die meisten der damaligen Neuerer, die Darmstadt den Ruf als Nabel der Avantgarde-Welt einbrachten, waren knapp über zwanzig, als sie ihre Erfindungen machten. Stockhausen war 23, als er 1951 seine erste serielle Komposition „Kreuzspiele“ schrieb, Pousseur 24, als er zwei Jahre später die seriellen „Prospections“ für drei im Sechsteltonabstand gestimmte Klaviere komponierte. Mit 27 beendeten Boulez 1952 die „Structures I“ für zwei Klaviere und Kagel 1958 seine anarchischen „Anagrama“. Heinz-Klaus Metzger war 25, als er sich in seiner Polemik „Das Altern der Philosophie der Neuen Musik“ mit Adorno anlegte.
Einen solchen Aufstand der jungen Generation gegen die müde gewordene Tradition gab es seither nur noch einmal, und zwar in den 1970er-Jahren, als die knapp über Zwanzigjährigen von damals – Rihm, von Bose, von Schweinitz und andere – gegen die inzwischen arrivierten Seriellen den Aufstand probten. Das geschah allerdings schon nicht mehr mit der Kraft einer kanonbildenden neuen Ästhetik. Das Momentum fächerte sich in eine Vielzahl individueller Impulse auf, und seither muss sich jeder Komponist im Dickicht der Postmoderne seinen eigenen Weg selbst bahnen. Das tun heute etwa hochbegabte Musiker wie Jörg Widmann oder der versatile Enno Poppe. Doch sie sind Einzelerscheinungen. Sie erfinden nichts Neues mehr und treten auch nicht mehr als Gruppenintelligenz mit gleicher Stoßrichtung auf. Wenn sich noch Gruppen zusammentun, dann eher bei Nischenaktivitäten. Der Grundsatz heißt heute: jeder für sich und niemand zusammen.
Den Komponisten kann man das nicht zum Vorwurf machen. Das Epochenparadigma hat sich geändert. Die junge Garde der fünfziger Jahre fand eine zerstörte Landschaft vor, hatte einen ungeheuren Hunger nach Neuem und konnte sich ungehindert entfalten. „Nie fühlte ich mich freier als in den materiell so schlimmen Nachkriegsjahren“, sagte einmal Josef Anton Riedl. „Damals war alles möglich.“ Das kulturelle Vakuum nach der Nazizeit war ein hervorragendes Biotop für alles Neue, und die Besatzungsmächte sorgten dafür, dass sich die initiativen in die richtige Richtung entwickelten. Und diese Richtung hieß Freiheit.
Heute sind die entwickelten Gesellschaften Westeuropas an ihre Grenzen gestoßen und die Suche nach Freiheit ist schwierig geworden. Wo früher Aufbruch herrschte, wird heute verwaltet, geistige Unabhängigkeit wird durch Korrektdenken eingeengt, kreatives Potenzial nimmt den Umweg über das Antragsformular, die Kommunikation ist digitalisiert. Die Fenster zur äußeren Freiheit werden durch halbstaatliche Bürokratien und Konzerne geöffnet und heißen Förderprogramme. Dann wird von der „Next Generation“ gesprochen, per Bahn durch Deutschland gefahren oder ein Reise in ferne Großstädte wie Istanbul oder Hongkong erlaubt, wo noch das Leben tobt und sich der Komponist die Inspiration fürs nächste Stück abholen darf. Die Jungen, die keine Verbindung zur Ticketausgabe haben, bleiben auf sich gestellt und suchen vielleicht nach der inneren Freiheit. Aber dass eine Gruppe von knapp über Zwanzigjährigen heute noch einmal die Musik radikal auf den Kopf stellt, ist nicht mehr vorstellbar.