Verena Rein betrachtet die Gesangspraxis „Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch bis in die 70er-Jahre hinein“ offenbar als vorbildlich. Aber ist das die Praxis des 18. Jahrhunderts? Aufnahmen des beginnenden 20. Jahrhunderts zeigen noch ein ganz anderes Gesangsideal als das, welches nach dem Ersten Weltkrieg aufkam: schlanke, unforcierte Stimmen mit einem schnellen Vibrato, das eher eine Lautstärken- als eine Tonhöhenschwankung ist. Aber auch das dürfte sich vom Ideal der Mozartzeit bereits unterscheiden. Jene bekannte Aussage Mozarts zum Vibrato wird von Rein unvollständig zitiert: „die Menschenstimme zittert schon selbst – aber so – in einem solchen Grade, daß es schön ist – daß ist die Natur der Stimme“. Liest man weiter, dann heißt es: „so bald man aber über die schrancken geht, so ist es nicht mehr schön – weil es wieder die Natur ist. da kömts mir just vor wie auf der orgl, wenn der blasbalk stost.“ Was meint Mozart mit „in einem solchen Grade, daß es schön ist“ beziehungsweise mit „über die schrancken“? Fast alle Quellen, die sich vor etwa 1920 (!) zum Gesangsvibrato äußern, erwähnen es entweder als eine Verzierung, die nur gelegentlich anzubringen ist, oder verurteilen es. Nur um 1600 gibt es italienische Quellen, die von einem leichten „tremolo“ sprechen, das Zacconi als „succinto, & vago“ beschreibt, und in deren Folge Michael Praetorius 1619 von einer „liebliche(n) zitternd bebende(n) Stimme (doch ... mit besonderer moderation)“ spricht – was noch einige spätere deutsche Quellen übernommen haben.
Das Mozart-Zitat ist in seiner Zeit jedoch eine Ausnahme, was ehrlicherweise nicht verschwiegen werden sollte. In einem Leserbrief kann ich nicht all die Zitate anführen, die ein Vibrato kritisieren bzw. eine feste, nicht schwankende Stimme fordern (vgl. dazu meinen Aufsatz „Zur Rolle des Gesangsvibratos in der abendländischen Musikgeschichte“; in: Concerto 164, Juni 2001, 19–24 u. 165, Juli/Aug. 2001, 13ff.). Die wenigen Quellen, die ein Vibrato befürworten, können jedenfalls nur ein leichtes, für ungeschulte Ohren wohl kaum wahrnehmbares dynamisches Vibrato gemeint haben, dem man noch ein Verzierungsvibrato aufsetzen konnte. Doch selbst unter den Alte-Musik-Spezialistinnen und -Spezialisten gibt es nur vereinzelte, die fast ohne Vibrato singen. Leider ist es noch immer die Regel, dass der historischen Aufführungspraxis im Orchestergraben ein ganz anderer Gesangsstil auf der Bühne gegenübersteht; das gilt auch für die meisten CD-Einspielungen mit historischen Instrumenten. Die Autorin spricht von „der Hinwendung zum sogenannten Barockgesang unsrer Zeit, mit seiner Vorliebe für sehr schlanke, manchmal sogar dünne Stimmen und damit verbunden leider häufig auch Ausdruckslosigkeit, Gefühlsarmut, Sterilität“. Ausdruckslosigkeit, Gefühlsarmut und Sterilität quasi mit einer schlanken, oder wie es Rein auch pejorativ ausdrückt, „dünnen“ Stimme gleichzusetzen, ist unangebracht. Eine „dicke“ Stimme, die dann wohl das Ideal der Autorin darstellt, hat meist Schwierigkeiten bei den Koloraturen und verunklart die Vokale; und wenn sie vibriert, dann gilt dies um so mehr. Ein Tonhöhenvibrato macht auch eine reine Intonation unmöglich, was insbesondere im Ensemble mit anderen Sängern negativ auffällt. Mir scheint, Rein verwechselt Ausdruck mit Überspanntheit und Lautstärke. Ist nicht die Verschmelzung zweier vibratolos geführter Stimmen in reinen Terzen oder Sexten in einem Liebesduett viel passender und ausdrucksvoller als ein Nebeneinanderhersingen in unterschiedlichen Vibratofrequenzen und -amplituden? Eine schlichte, klare, vibratoarme, artikulatorisch deutliche und dynamisch flexible Wiedergabe hat für mich weitaus mehr Ausdruck als das Dauervibrato einer Netrebko oder Bartoli, eines Domingo oder Villazon. „Moderner“ Gesang mag ein Publikum, dem es um athletische Leistungen geht, begeistern – aber kann er rühren? Liegt in der Musik nicht genügend Ausdruck, so dass man diesen herbeizittern und herbeischreien muss? Klarinettisten spielen traditionell ohne Vibrato – wirft man ihnen deshalb Ausdrucksarmut vor?
Bei aller Unterschiedlichkeit der Geschmäcker: Der heute, auch in der sogenannten historischen Aufführungs-praxis, vorherrschende Gesangsstil ist gewiss nicht der, mit dem die Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts (und davor) ihre Musik aufgeführt wissen wollten. Es ist schade, dass der Artikel von Verena Rein die wenigen Sängerinnen und Sänger diskreditiert, die sich um eine adäquate Interpretation älterer Musik bemühen.