Uraufführungen zu bestellen ist stets ein Risikospiel für die Veranstalter; man weiß nicht, ob man auf Flop oder Top gesetzt hat. Nicht weniger riskant kann es aber auch sein, wenn man bei einem Komponisten einen Grundsatztext fürs Programmheft bestellt. Das werden sich die Verantwortlichen der Münchner Musica Viva gedacht haben, als sie den Text in den Händen hielten, den sie bei Dieter Schnebel für das Jahresprogramm der neuen Saison bestellt hatten. Vielleicht hatten sie ein pastorales Geleitwort erwartet, doch unter dem Titel „Einige Gedanken zur Situation der Neuen Musik“ sandte ihnen der Komponist ätzende Bemerkungen über den auf Hochtouren laufenden Betrieb.
Das liest sich dann so: „Großes Einerlei, alles so ähnlich, allerdings gut gemacht – ‚professionell’ – Musikhochschulmusik. Die Stücke meist fabelhaft aufgeführt – durch virtuose Ensembles. Der Klang freilich glänzend wie die lackierten Gegenstände um uns herum, die Einbauküchen, Handys, Autos etc. – genormte Produkte. Kaum ein Unterschied, woher immer die Komponistinnen und Komponisten kommen, egal ob aus Palästina, Brasilien, Australien – globalisierte Einheits-Neue-Musik. Uns Älteren fehlt die Tiefe.“
Aus diesem Negativ-Katalog darf sich jeder Komponist und jede Komponistin, die weiter hinten in den Konzertprogrammen vorkommen, für sich etwas aussuchen. Vielleicht wird es ja auch einen oder zwei geben, auf die das alles nicht zutrifft. Aber mit seinen Beobachtungen hat Schnebel zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen, was den Mainstream des aktuellen Komponierens mit seinen standardisierten Festivalformaten und theoretisch eloquent unterfütterten Designerstücken für den gehobenen Konsum angeht. Solche Produkte – sie sind die erdrückende Mehrheit – werden heutzutage kurz abgeschmeckt, applaudiert und dann beiseite gelegt. Nachdenklich Machendes oder gar Berührendes trifft man selten an, und wenn, findet es oft nicht die nötige Aufmerksamkeit.
Man kann Schnebels harsche Diagnose als Ausdruck eines Generationenproblems deuten; er selbst, bescheiden wie er ist, suggeriert das mit seiner Bemerkung von der fehlenden Tiefe und verweist auf Adorno, der bei der Fünfzigerjahre-Avantgarde auch nicht mehr richtig mitgekommen sei. Man kann sie aber auch als Feststellung eines unbestechlichen Beobachters lesen, dessen Urteilskriterien nicht dem schwankenden Zeitgeist unterliegen, weil sie auf einem erprobten humanistischen Fundament ruhen.
Auf seine Weise hat das vor Jahren auch Helmut Lachenmann über Luigi Nono gesagt: Von Nono könne man lernen, dass es „kein aufgeklärtes Komponieren geben kann ohne die Verankerung in einer verantwortungsvollen Gesinnung, die übers bloße Musikmachen hinausreicht, und dass es nicht geht ohne den Willen und die Bereitschaft, für solche Gesinnung mit seiner ganzen Existenz einzustehen“. Es handelt sich offenbar weniger um eine Generationsfrage als vielmehr eine Frage des Bewusstseins. Und dieses scheint der Mehrzahl der heutigen Stückelieferanten abhanden gekommen zu sein.
Schnebel hütet sich indes vor der billigen Feststellung, früher sei eben alles besser gewesen.
In den grenzenlosen Möglichkeiten der Gegenwart, in der „gigantischen Müllhalde aus neuen, alten und uralten Dingen“ sieht er auch ein Zukunftspotenzial: „Dinge sortieren; Kompostieren (...), in die Tiefe graben – was sich da abgesetzt hat, es herausangeln; dann die Funde komponieren...“ Das Neue tun und von den alten Überzeugungen nicht lassen: Das wäre die Aufgabe des heutigen Komponierens – zugegeben eine schwierige, aber nur so ließe sich ein Ausweg aus der Sackgasse des marktkonformen Neue-Musik-Betriebs finden. Auf musikalische Einbauküchen können wir getrost verzichten.