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Musikleben zwischen Antragsschach und Dauermatt. Foto: Martin Hufner
Musikleben zwischen Antragsschach und Dauermatt. Foto: Martin Hufner
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Elastizität!

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Nachschlag 2023/03
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Das Kulturleben reklamiert für sich als unabdingbare Voraussetzung ihres Gelingens die Fähigkeit zur Planbarkeit. Dem stehen zurzeit die vielen Unsicherheiten gegenüber, die viele alte Gewissheiten und Gewohnheiten über den Haufen zu werfen scheinen. Die Probleme sind ebenso simpel zu benennen wie historisch groß in ihrem aktuellen Ausmaß.

Sie reichen von den konkreten Auswirkungen des Krieges (Energiekosten) über die Kalkulation von künftigen Finanzhaushalten angesichts der Inflation (betroffen sind neben privaten Vereinen und Initiativen natürlich auch Kommunen, Länder und der Bund) bis hin zu ausdauernden Krankenständen, dem Fachkräftemangel, der Bildungsmisere mit fehlendem Lehrpersonal und zur fortschreitenden Übernahme kreativer Arbeit durch Computertechnologien der neuesten Generation. Die Musikkultur ächzt in diesen unsicheren Zeiten hörbar – gerade in dem Moment, wo viele denken, sie könne, müsse und solle zur Normalität zurückfinden. Aber ist das ein sinnvoller Weg?

Peter Grabowski, bekannt auch als der „kulturpolitische Reporter“, hat in einer Analyse mit dem Titel „Zur Kenntnis extra: Unser Leben ist vorbei“ den Grundfehler der aktuellen Entwicklungen des Kulturlebens sehr präzise analysiert. Man hänge, wie eben auch die Wirtschaft, fatalerweise dem Irrglauben nach stetigem Wachstum, also einer „kapitalistischen Wachstumslogik“ an. „Mehr Veröffentlichungen, mehr Konzerte, mehr Inszenierungen, mehr Premieren, mehr Künstler*innen, mehr Orte, mehr Räume, mehr Geld … stets begründet als angeblich unverzichtbare ‚Investition‘ in die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Das sei aber im Grunde genommen pure Ideologie, nämlich notwendig falsches Bewusstsein und ein Selbstbetrug. „Der angebliche democratic return on cultural invest war und ist in Wahrheit nie mehr gewesen als gut getarnte Eigen-PR: Mehr Kultur ist immer gut – und zwar für die Kultur!“

Grabowski kommt zu dem Ergebnis: „Nun stehen wir – nach Corona, mitten in einem europäischen Krieg und der höchst dringlichen Nachhaltigkeitswende – vor dem Kollaps. Das Publikum bleibt weg, die Kunst ist ratlos, der Geldfluss auf absehbare Zeit versiegt. Der Staat muss sein pures Weiter­funktionieren auf Pump finanzieren, die Kommunen beschließen aktuell – wenn überhaupt – Rumpfhaushalte, weil niemand weiß, was nächstes Jahr noch in der Kasse sein wird.“ Sein Fazit ist komplett ernüchternd: „Wir müssen uns endlich eingestehen, auch in der Kultur: Das Leben, das wir hierzulande kannten, ist jetzt wirklich vorbei – und wir brauchen schleunigst ein neues!  […] Neue Opernhäuser, Museen oder Konzertsäle verbieten sich von selbst, bis die schon existierenden verlässlich gepflegt, modernisiert und in jeder Hinsicht nachhaltig betrieben sind.“ Siehe dazu auch den Leitartikel von Robert Braunmüller auf Seite 1, der die Dissonanz von Wunsch und Wirklichkeit am Beispiel der Münchner Konzerthaus-Diskussion beschreibt. Siehe aber auch den Beitrag zur Pressekonferenz von „unisono“ von Mathis Ubben (Seite 17). Angeblich komme das Publikum zurück: Aber warum? Aus Nostalgie, aus Langeweile, weil es überredet wird? Weil es das will oder weil es das wollen soll?

Die Corona-Zäsur im Kulturleben zeigt aber auch: Die kulturellen Kräfte, die in unserer Gesellschaft schlummern, sind stärker, als man vielleicht ahnt. Robert Göstl leitet den Rundfunk-Jugendchor Wernigerode. Anlässlich der Eignungsprüfungen des dazu gehörigen Landesgymnasiums für Musik stellt er fest: „Sehr schöne Eignungsprüfungen … Nach Runde 1 von 3 lässt sich feststellen: wenn das so weitergeht, bekommen wir einen a) vollen und b) sehr guten Jahrgang 5 und auch immer mehr Quereinsteiger/-innen bewerben sich erfolgreich.“ Das Beispiel soll deshalb Erwähnung finden, weil es eigentlich nicht hätte passieren dürfen, wo doch Corona alles kaputtgewirbelt haben soll, gerade im Bereich der musischen Bildung. Eine etwas andere Kraft muss da wirken, die nicht durch Maßnahmen von außen steuerbar ist.

Das aber entspricht nicht unserer bisherigen Kulturpolitik. Wir lieben eben Maßnahmen über alles, sind die Meister*innen im Strukturieren und Abheften. Vor die Wahl gestellt zwischen Improvisation und Bürokratie, wählen wir das Organigramm, die Tabelle, ein amtliches Prüfergebnis, die Qualitätssicherung und den Plan. Kurz: Die Gesellschaft ist zu einer Kontrollgesellschaft umgebaut worden, auch in der Kultur. Kontrolle mag auf einer Intensivstation im Krankenhaus sehr hilfreich sein, für eine freie Kultur bringt sie leider Verderben. Neben das Wachstumsdogma tritt das des Wunsches nach der (totalen) Beherrschung von Natur und Kultur.

Vielleicht ist es an der Zeit, für eine Art negatives Rückwärtswachstum auf einer solide abgesicherten Basis zu plädieren, damit von unten keimen kann, was von oben her durch Verwaltung und eine Art Kulturnarzissmus sich mittlerweile mehr selbst im Weg steht als sich zu öffnen. Manches scheint erst dann wieder zu gedeihen, wenn man es gerade unterlässt, mit Dünger künstliches Wachstum zu erzeugen. Karl Kraus sagte: „Was haben wir nur in all der Zeit getrieben? Wir sind mit dem Fortschritt vorausgeeilt und hinter uns zurückgeblieben.“ Wenn wir uns wieder einholen wollen, müssen wir langsamer werden und elastischer im Tempo, um die Ziele schneller zu erreichen, die wir angesichts der Unsicherheiten in der uns umgebenden Umwelt und Geschichte gar nicht bestimmen können.

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