Staunen löste es auf jeden Fall aus: das Nationale Kinderorchester Venezuela bei seiner Tournee durch Deutschland. Da spielte ein riesiges Orchester mit 214 Instrumentalisten so orchestertechnisch vertrackt heikle Musik wie etwa das Finale von Tschaikowskys 4. Sinfonie – und man hielt dem angespannten Tempo virtuos und sauber stand. Doch nicht das Akrobatische ist es, was faszinierte und zum Denken anregte, auch nicht die Masse der versammelten Musiker.
Denn schnell wurde der Blick zurück gelenkt auf kulturelle Debatten hier zu Lande; und hier beginnt das Nachdenkliche. Venezuela ist ein Land, in dem trotz reicher Ölvorkommen ein Drittel der Bevölkerung den Sprung über die Armutsgrenze nicht schafft. Wie aber sähe es in der deutschen Orchesterlandschaft aus, wenn hier ähnliche ökonomische Engpässe herrschten? Denn jede finanzielle Knappheit wird hier doch immer als Vorwand genommen, sofort die Streichliste hoch zu hängen, um dem scheinbar Überflüssigen, also der Kultur an den Kragen zu gehen. Uns redet man ein, dass wir nur mit einem Orchester weniger gleich viel zu essen haben. So einfach macht man es sich hier, ohne viel zu fragen, ob dieser einfache Weg der richtige ist. Und der Schwachsinn wird auch noch geglaubt.
Venezuela geht einen anderen Weg, und es lohnt durchaus, davon zu lernen. Armut und Reichtum sind ja längst nicht nur am finanziellen Umfeld allein zu messen. Und den Kindern dort wird, auch wenn man böswillig ein Ablenkungsmanöver dahinter erblicken könnte, in ihrer Armut ein Stück anderen Reichtums vermittelt und zuteil. Denn der Mensch lebt als ganzer, und Bereicherung lässt sich nicht erzielen, indem man eine Seite kappt und die andere bis zum Überdruss abfüllt.
Ja es könnte sogar sein, dass das Beschneiden der einen, hier der kulturellen Seite, schleichend kontinuierlich dazu führt, dass es auch auf anderen Gebieten zu Abtragsmechanismen führt. Wird aber, und in diese Richtung denkt das venezolanische Modell, Leben kulturell wach gehalten, dann wachsen daraus neue Regelmechanismen hervor, die der weiteren Reproduktion neue Kräfte zuführen.
Man beklagt bei uns zur Zeit, dass in Deutschland das rechtsradikale Potenzial ständig zunimmt. Und die, die an oberer Stelle darüber jammern, sind oft auch die ersten, die den Rotstift an kulturelle Einrichtungen anlegen. Ganz kurzsichtig plädieren sie, dabei Recht zu haben.
Denn selbstverständlich ist kein Jugendlicher, der mit rechtsextremen Parolen herum randaliert, nicht über die Mitgliedschaft in einem Jugendorchester (wofür er wohl nicht einmal ein müdes Lächeln hätte) zu besänftigen. Dieses Argument scheint auf den ersten Blick plausibel, aber es ist blind. Die gesellschaftlichen Mechanismen sind ganz andere. Vielleicht wären sie so zu beschreiben, dass in einem Land, das so leichtfertig mit der Kultur umgeht, das ohne weiteres die Mittel kürzt, Orchester streicht, Theater schließt, mit dieser Tat, mit der dahinter stehenden Gesellschaftsideologie selbst schon die Basis schafft für einen dumm-rüderen Umgang mit allen Umständen. Denn so, wie hier oft mit Kultur umgegangen wird, kann man das nur als dumm-rüde bezeichnen. Und der Nährboden für neofaschistisches Potenzial ist eben auch dieses fatale Paar aus Dummheit und Rüdheit oder Gewaltbereitschaft. Das vorgelebte Wertesystem wird auf unterer Ebene reproduziert und bringt dort seine wirkliche Brutalität zum Aufscheinen.
So ist das venezolanische Modell nicht nur ein Mittel, Kinder von der Straße zu holen, die aus Armut in Gefahr geraten, zu asozialen (das heißt: nicht in die Gesellschaft integrierbaren) Elementen zu werden, es hat weit mehr an Zusammenhang von Kultur und gesellschaftlichem Zusammenleben begriffen. Wer so verantwortlich mit Kultur, mit Musik und mit allen damit zusammenhängenden Implikationen umgeht (zum Beispiel im Orchester: soziale Einordnung, gegenseitige Unterstützung, der Teil und das Ganze und so weiter), der gibt auch Beispiele für andere Umgangsformen. Zumindest auf diesem Gebiet ist Venezuela ein reiches, Deutschland aber ein Entwicklungsland.