Regelmäßig alle vierzehn Tage ein Konzert zu besuchen, das kann einem das Leben um sage und schreibe neun Jahre verlängern. Das fand im vergangenen Jahr eine Studie der Londoner Goldsmith‘s University heraus, deren Auftraggeber, der Mobilfunkanbieter und Hallenbetreiber O2, den Userappell stehenden Fußes hinterherschickte:
„To find the nearest gigs and get that much needed life-span boost, visit“… Link zu O2. Dass etwa Anschutz Entertainment, welche von O2 die Berliner, in Mercedes-Benz-Arena umbenannte Premiumimmobilie übernahm, ähnlich denkt und die Oberklassenlimos mit dazu, muss man nicht anzweifeln. Und es wird auch manch anderer solcherart anwendungsorientierte Forschung zu goutieren wissen, um daraus die nötigen Schlussfolgerungen für das jeweils eigene Geschäftsmodell zu ziehen. Anwendungsorientiert geht jedenfalls auch Martin Tröndle das Feld der Konzertforschung an mit dem zweiten Band der von ihm beim Bielefelder transcript Verlag herausgegebenen Studien – der erste erschien 2009 und basierte auf Vorträgen eines Wolfenbütteler Symposiums über „Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form“. Abermals geht es um Praxistauglichkeit.
Nun gilt es zudem, eine neue Disziplin zu etablieren, die „Concert Studies“, und dieser, so Tröndles einleitender Aufsatz im Titel, „Eine Konzerttheorie“ zu stiften, deswegen hier mehr dazu. Dabei geht der Autor die Sache ebenso evolutionstheoretisch wie behavioristisch an: Musik, kurzum, sei ein Mittel zur Erregung, Akkumulation und Steuerung von Aufmerksamkeit, und solche, die besonders viel Aufmerksamkeit errege, werde übernommen und weiterentwickelt, während vergleichsweise Reizarmes ausselektiert wird. Das gelte gleichermaßen für die Musikräume wie für Konzertformate und Instrumente. Na ja. Aber man vergisst mal kurz Dufay, Bach, Chopin, Lachenmann, Phillip Boa und den ganzen anderen Club, da man weiß, dass Performance Studies von Werk und Text habituell wenig halten, man drückt die grundlagenfixierte, weil musikhistorisch informierte Schnappatmung wohlwollend weg, um mehr von dieser Evolutionstheorie zu hören: „Erreicht man im Konzert mit der Laute 100 Zuhörer, so fasziniert die Konzertgitarre schon 300, die elektrische Gitarre 30.000.“ Soll heißen, Faszination, die hier wohl für Qualität stehen soll, sei gleichbedeutend mit quantitativem Aufwuchs. Gut meint laut und voll. Und dann möchte man davon doch nicht mehr hören, nichts mehr vom Standpunkt der Luftgitarre, von wo aus es prinzipiell egal ist, worum es geht: John Dowland oder die Wandervogelklampfe, Sonic Youth oder etwa die Scorpions.
Nun, Hanns-Werner Heisters „Das Konzert. Theorie einer Kulturform“, dieser soziohistorische Wurf von 1983, verzichtete im Grunde genommen auch auf die Musik im engeren Sinne, kam ohne Noten und Beispiele aus. Die autonome Kunstmusik jedoch bildete das Grundrauschen, welches der Text modulierte, und sie strömte zudem aus jeder Zeile der in überschwänglicher Fülle ausgebreiteten historischen Sekundärquellen. Auch ohne Werke oder gar den Kanon zu bemühen, verfolgte Heister so das komplexe, oft ambivalente Wechselverhältnis von Wert und Wirkung in der jüngeren Aufführungsgeschichte der Kunstmusik. Diese findet sich in der vorliegenden Konzerttheorie nun auf ein darwinistisch-pawlowsches Minimalmaß zurechtgestutzt, nämlich auf das von Anpassung und bedingtem Reiz, womit man sich hemmungslos an den Musikbegriff ranschmeißt, der auch von der digitalen Kulturindustrie global durchgedrückt wird. Wir erinnern uns: Aus iPhone, -Pad und -Pod und der ganzen Chose, die folgte, wäre nichts geworden, wäre es nicht die Musik gewesen, die dabei in beispielloser Weise entkörperlicht und durchkapitalisiert worden ist, und wäre nicht gleichzeitig eine Hörkultur ankonditioniert worden, deren binäres Funktionsprinzip nur die zwei Zustände von Bedürfnis und Befriedigung kenn: 0/1, off/on. So aber haut man die Musikgeschichten aller Morgen- und Abendländer und die ihrer ungezählten entbehrungsreichen Nächte in die Tonne, denn Musik und Kunst waren und sind keine Trieberfüllung. Die vergangene und gerade noch gegenwärtige Vielfalt kultureller Äußerungen verdankt sich, nicht nur nach Sigmund Freud, der menschlichen Fähigkeit zu Triebaufschub, -verzicht und -ersatz, zum steten Hinauszögern und Umlenken des Begehrens in Artefakte und ihren sinnlichen Nachvollzug. Je mehr, umso schöner. Das aber ist das genaue Gegenteil der digitalen Versprechungen von sofortiger Erfüllung und Präsenz. Menschen und vor allem öffentliche Institutionen, denen Kunst ein Anliegen ist, sollten sich hüten, dieser Suggestion nachzugeben – es sei denn, sie sind bereit, den Preis ihres Verschwindens in Clouds und Playlists zu entrichten.
Freilich nehmen sich nicht alle Beiträge des Bandes als bloße Etüden in selbstverleugnender Relevanzherstellung und Anpassung aus, wie etwa Christian Kellersmanns Präsentation des Geschäftsmodells „Neue Klassik“. In legitimer kompensatorischer Absicht (Publikumsschwund, Bildungsmisere, Ressourcenknappheit usf.) erläutern Veranstalter wie Sebastian Nordmann und Folkert Uhde ihre Programmkonzeptionen, stellt Steven Walter sein Konzertmanifest vor. Beatrix Borchards historischer Streifzug durch die Klang-räume von Kammermusik und Lied kann ebenso die gegenwärtige Aufführungspraxis erhellen wie Christan Thoraus vom Programmzettel bis zur App reichende Geschichte des geführten Hörens. Schließlich aber müsste die dünne Konzerttheorie nochmals unterfüttert werden, nicht zuletzt aufgrund der Beiträge von Nicholas Cook und Matthias Rebstock im selben Band. Um das Performative vor fortschreitender Simplifizierung und wachsender Selbstähnlichkeit zu bewahren, empfehlen beide, Text und Werk nicht aus den Augen zu verlieren. Eine angewandte Wissenschaft ohne Grundlagen verzwergt sich zum App-Lieferanten.
- Martin Tröndle (Hg.): Das Konzert II. Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies, transcript Verlag, Bielefeld 2018, 492 S., € 39,99, ISBN 978-3-8376-4315-2