Letzte Taxifahrt. Eine Tour zum Arzt, die Beine wollen nicht mehr, die Lunge gibt überkrächzende Pfeifgeräusche von sich: schlimme Grippe, hohes Fieber. Man hat Mühe und Not, ein Taxi für den Krankentransport zu ordern. Es geht einem schlecht, Schmerzen bei jeder Bewegung in den Gliedern und im Kopf. Mit dem Taxi kommt die Rettung. Die Farbe wirkt wie ein Lichtlein am Ende des Tunnels. Ein freundlicher Mensch hilft einem in ein Auto, das man sich selbst nie und nimmer leisten könnte. Ein wenig Humpeln, dann Platz nehmen, die Schmerzerlösung rückt näher und näher. Die Zielstraße kennt der Fahrer nicht, aber die ist schnell im Navi notiert. Und ab geht die Post, wie man so schön sagt.
Nach wenigen Metern klackt der automatische Schließmechanismus der Tür und genau erst dann, nicht früher, steigen die Schmerzen nicht unerheblich. Der Fahrer hat sein Radio angemacht und es erklingt Helene Fischers „Atemlos“, danach „Griechischer Wein“ – an den Rest kann man sich wegen der plötzlich einsetzenden Ohnmacht nicht mehr erinnern.
„Bedingtes“ Autofahren nennt man so eine Nötigung, und ein Hörzwang wird einem zuteil. Dabei ist man doch zunächst Gast und König – oder Königin – und nicht ein Schallopfer. Welche zusätzlichen Qualen also so ein „bedingtes“ Autofahren mit sich bringt, weiß der Taxifahrer nicht, der nicht einmal weiß, dass er williger Vollstrecker des Rundfunkgeschmacks ist; er dünkt sich vielmehr im Recht und hört doch nur, was alle hören; seine Kolleginnen und Kollegen, die Kinder – und was alle senden als Taxibegleitprogramm, wie es aus den Rundfunkhäusern heißt, und Qual bereitet. Das sind akustische Reflexe der Mehrheit, das ist die Diktatur der Redakteure auf Umwegen. Und für viele mag das ja angehen, sie kennen ja nichts anderes. Doch aus der soziologischen Forschung wissen wir: „Es dürfte wohl keinen Geschmack geben – mit Ausnahme vielleicht des Essgeschmacks –, der tiefer im Körper verwurzelt wäre als der Musikgeschmack … Und nichts dürfte schwerer zu ertragen sein als anderer Leute ‚schlechter‘ Geschmack. Ästhetische Intoleranz kann eine furchtbare Gewalt entwickeln“, meinte Pierre Bourdieu – oder Ohmacht herbeiführen, Selbstzweifel, Lebensverdruss, Organversagen.
Doch Hilfe naht. Das amerikanische taxiähnliche Unternehmen „Uber“ (man nennt es politisch-korrekt: Fahrdienstvermittler) bietet demnächst seinen Fahrgästen an, die Musik selbst zu wählen. Die wichtigsten Lebenselemente, Bewegung und Musik, finden endlich zusammen. Über den Musik-Streamingdienst „Spotify“ darf der Reisende seine Klänge beziehen und sich die Fahrt lang einlullen lassen. Der Fahrer muss dies endlich selbst ertragen, was er seinen Fahrgästen zumutete. Oder, wie von uns Kulturbeflissenen zu erwarten ist, „darf“ er das. Man wählt vielleicht geschickt ein paar Webern-Stücke für die Fahrt zur nächsten Pizzeria, eine Bach-Kantate „Ich steh mit einem Bein im Grabe“ für die Fahrt zum Sektempfang oder für eine Reise zwischen Hamburg nach Frankfurt das zweite Streichquartett von Morton Feldman und nimmt dabei gerne in Kauf, dass der Fahrer ein paar Umwege durch abgelegene Wald- und Sumpfgebiete nutzt. Denn der will ja auch ganze Werke hören, das kennt er vom Popsender.
ÜBERhaupt und sowieso: Wir Kulturbeflissenen sollten auf diese Weise Taxifahrer als Multiplikatoren guten Geschmacks nutzen. Nicht jeder kann sich ein Premium-Abo bei „Spotify“ leisten, denn das ist schon zwingend nötig (guter Schachzug des Musikabsaugers „Spotify“ – denn, siehe Pierre Bourdieu oben: Geschmackdurchsetzen ist für Menschen ein elementares Bedürfnis, was man sich auch was kosten lassen kann.)
Die positiven Erfahrungen, die so ein Fahrdienstvermittler-Fahrer mit Musik auf diese Weise machen kann, wird er schon aus Eitelkeit an andere Fahrdienstvermittelte weiterreichen. Da fährt man dann schon mal etwas länger um den Block, damit man nicht vor dem Schlussakkord am Fahrziel ist. So gemein kann kein Mensch sein, nur ein Rundfunkredakteur. Bei der nächsten Fahrt zum Arzt werde ich mir jedenfalls Schönbergs Streichtrio streamen lassen.