Wieder einmal tobt eine Grundsatzdebatte in Deutschland, ihre Schlagworte sind Globalisierung, kulturelle Identität und – nein, das Unwort will mir nicht aus der Feder, aber Sie wissen schon. Nun hat auch Michael Naumann kürzlich Wundersames geäußert. Bevor er als verdienter Pionier im Amt des „Staatsministers für Kultur“ das bundespolitische Feld vorzeitig wieder verlässt, wollen wir ihn zu einem Thema zur Rede stellen, das uns auch nach seinem Abgang beschäftigen wird. Wieder einmal tobt eine Grundsatzdebatte in Deutschland, ihre Schlagworte sind Globalisierung, kulturelle Identität und – nein, das Unwort will mir nicht aus der Feder, aber Sie wissen schon. Nun hat auch Michael Naumann kürzlich Wundersames geäußert. Bevor er als verdienter Pionier im Amt des „Staatsministers für Kultur“ das bundespolitische Feld vorzeitig wieder verlässt, wollen wir ihn zu einem Thema zur Rede stellen, das uns auch nach seinem Abgang beschäftigen wird.
„Die Globalisierung hat zur Folge, dass die verschiedenen Kulturen intensiver aufeinander einwirken, als dies je der Fall war“, lautet Naumanns These. Zur Illustration führt er kulinarisch das Angebot von Dönerbuden, Hamburger-Ketten und Asia-Snacks an, musikalisch die Leitung eines berühmten deutschen Orchesters durch einen Italiener, eines anderen durch einen Briten, eines dritten durch einen Amerikaner. „Besucher, die lange nicht in Deutschland waren“, so Naumann, „mögen überrascht sein über das internationale Bild unserer Städte“.
Sehr lange müssen diese Besucher nicht mehr bei uns hereingeschaut haben, denn auf das Ende jenes von projektierten tausend auf zwölf Jahre reduzierten Reiches, in dem auch Kultur auf germanisches Biedermaß gleichgeschaltet war, folgte gleich ein Boom der Internationalität, und zwar zu allererst im Kulturleben – im Theater, in den Galerien, in der Literatur und im Musikleben allemal. In Berlin stand mit Sergiu Celibidache ein junger Rumäne am Pult der Philharmoniker, und der Ungar Ferenc Fricsay wurde an die Spitze des neu gegründeten RIAS-Symphonieorchesters berufen, unter dessen vier Nachfolgern von internationalem Rang auch keiner darauf stolz sein kann, Deutscher zu sein.
International lief es auch in vielen anderen Städten, und zwar seit Jahrzehnten; erinnert sei an Namen wie Georg Solti, Dean Dixon, Rafael Kubelik oder Vaclav Neumann, die wichtige Positionen innehatten. Nur hat das alles mit dem Prozess der Globalisierung, wie er sich seit einem Jahrzehnt abzeichnet, wirklich gar nichts zu tun, ebenso wenig wie die Engagements deutscher Künstler in den USA, Japan oder Skandinavien, von den Dönerbuden ganz zu schweigen.
Green Cards in der einen oder anderen Form für Kulturschaffende und Aufführungen fremd-nationaler Werke hat es stets gegeben. Künstleraustausch, Kultur-Wanderjahre und ausgedehnte Studienreisen, jede Art von Voluntariaten und Gastspielen in immer größerem Radius sind wichtiger Bestandteil unserer Kultur- und Kunstgeschichte; die Biografien von Haydn und Mozart, bis zu de Falla und Prokofieff, um nur wenige Prominente der Musikgeschichte zu nennen, belegen dies. Immer wieder haben Komponisten ebenso wie Schriftsteller, Maler, Architekten oder Modedesigner Beobachtungen, Eindrücke, Impulse anderer, ihnen zunächst fremder Traditionen und Regionen aufgenommen, haben sich daraus inspirieren lassen für ihr eigenes Œuvre. So sind tatsächlich die meisten so genannten „nationalen“ Kulturen, nicht nur in Europa, seit Jahrhunderten geprägt von vielfältigen interkulturellen Einflüssen, und die Kultur in Deutschland, im geografischen Zentrum Europas, hat davon besonders profitiert: Deutsch in einem national beschränkten Sinne ist sie nie gewesen. Dass es dann gerade in diesem Land mitten im 20. Jahrhundert zu einem kulturellen, ja zivilisatorischen Absturz ins Bodenlose kam, zeigt aber, wie schwierig die Vermittlung solch „richtigen Bewusstseins“ ist: Nationalistische Ideologien, die vordergründig verführerisch als identitätsstiftend erscheinen, stehen in Wirklichkeit dem, was als kulturelle Identität zu beschreiben wäre, diametral entgegen. Insofern ist der rasche Aufstieg der Nazis gegen verhältnismäßig schwachen Widerstand auch ein Beleg dafür, dass die Kulturnation Deutschland damals größtenteils eben nicht „kultiviert“ war und daher empfänglich für die Parolen der Unkultur.
Naumanns Behauptung, Globalisierung habe die bislang intensivste Einwirkung verschiedener Kulturen aufeinander zur Folge, und deshalb sei „die Einübung von Toleranz...eine kulturelle Herausforderung“, führt da freilich in die Irre. Erfahren wir nicht Globalisierung viel mehr als Prozess des Abschleifens kultureller Profile? Verbirgt sich hinter diesem Begriff nicht gerade die elektronisch gesteuerte weltweite Gleichschaltung von Handels-, Finanz-, Marketing-, Planungs- und Kommunikationssystemen, und ist nicht „Kultur“ dabei längst vereinnahmt und den Kategorien Freizeit, Entertainment und Tourismus zugeordnet worden? Globalisierung hat ganz und gar nicht die „Differenzierung unserer Lebenswelten“ zur Folge, wie Naumann meint, indem sich „Kulturen gegenseitig befruchten“; Globalisierung bewirkt, wie sich längst deutlich erkennen lässt, genau das Gegenteil, nämlich die fortschreitende Reduzierung kultureller Vielfalt zu Gunsten maximaler Einschaltquoten in den Medien und weltweiter Akzeptanz im Internet. Aus dem Sog der Globalisierung gibt es kein Entrinnen, so viel steht fest. Ebenso sicher aber ist, dass damit eine Tendenz zur Dekultivierung verbunden ist, die – siehe oben – fatale Folgen haben kann.
Wer allen Kindern den Zugang zum Internet vermitteln will, um ihnen eine faire Chance zum materiellen Bestehen in der Gesellschaft zu sichern, der sollte zugleich auf Mittel und Wege sinnen, sie vor kultureller Verarmung zu schützen – die Kinder und unsere ganze Gesellschaft. „Kultur ist die schönste Form der Freiheit“, sagt Naumann, und wo er Recht hat, hat er Recht. Damit umzugehen setzt mehr voraus als Toleranz, vor allem eine Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik, die sich gerade an den Defiziten der Globalisierung orientiert und ein Bewusstsein davon vermittelt, was Kultur eigentlich bedeutet.
Wenn wir uns darauf einigen könnten, sehr geehrter Herr Naumann, dann würden wir tatsächlich große Erwartungen knüpfen an Ihre Verkündung: „Das Thema der kulturellen Identität steht ganz oben auf der Agenda der deutschen Regierungsarbeit.“ Hoffentlich wird dieses Thema mit Ihrem Abgang aus Berlin nicht gleich wieder abgesetzt.