Es ist widerlich, welche Prioritäten in Deutschland gesetzt werden. In den Universitäten verhungern die streikenden Studenten, weil vergessen, Herr Westerwelle verwechselt das Außenministerium mit einem Kegelverein (autsch, muss ich jetzt als Kolumnist zurücktreten?), die katholische Kirche taumelt in ihr letztes Gefecht und Gesundheitsminister Rösler grinst anstatt zu kämpfen. Aber er muss sich ja nicht von tuberkulösen Patienten während der dreistündigen Wartezeit anhusten und per Tröpfcheninfektion infizieren lassen. Das Wort „Randale“ rückt in greifbare Nähe. Inklusive Nobelkarossen abfackeln und ordentlich auf alles eindreschen, was sich bewegt. Kopfpauschale mal anders. Aber es gibt Wichtigeres. Deshalb bleiben wir deutschen Schafe brav zu Hause, stellen die Buddel Bier auf dem Bauch ab und glotzen.
Nicht nur blöd, sondern ebenso falsch. Zum Beispiel „Unser Star für Oslo“. Eine audiovisuelle Fleischbeschau, die festlegen sollte, wer in den Viehtransport der Eitelkeit zum Eurovision Song Contest 2010 nach Oslo gepfercht wird. Als hinge unser Leben davon ab, welche Singdohle diese inzestuöse Osteuropa-Freakshow für Deutschland bestreitet. Mit der Aussicht, 2040 in RTLs Hitparade „Die 30 größten Eurovisions Contest Versager“ als schwergewichtige, achtfache Mutter über drei Minuten Ruhm mit verfaultem Gebiss zu sabbern.
Für dieses Ziel haben ARD und NDR 2010 alles gegeben und vorab wie üblich das Hirn outgesourct. Aber immerhin die geballte wie abstinente Musikkompetenz abgegeben und Stefan Raab als höchste deutsche Musikjury inthronisiert. Der verramschte dem greisen Kalkriesen der Unterhaltung ein „sensationell“ neuartiges Showkonzept. Und das geht so: Ein unlustiges Moderatoren-Duo, zweifellos dem benachbarten Kurzentrum entliehen, zieht eine Sendung, die in 20 Minuten abzuhaken wäre, mit ranzigen Zoten und „Witz komm raus, du bist umzingelt“-Charme alberne zwei Stunden und sechs Wochen in die Länge. Zwischendrin gibt es dramatische Künstlerportraits („Mein Hobby ist mein Wallach Deister II.“), deren Gehalt selbst eine Stoiber-Rede spritzig erscheinen lässt. Hinterher darf gesungen werden, und später spült die Jury jede Leistung weich und zeigt sich gleichgeschaltet lobend. Großes Finale dann: anrufen und abstimmen. Sofern der Zuschauer noch wählen kann. Wegen Bier und so.
Siehe oben. Am Ende schickt man eine 18-jährige Abiturientin mit Wackelstimme nach Oslo. Die fließend Deutsch spricht, dafür im Englischunterricht – speziell phonetisch – mal besser aufgepasst hätte. Die nie im Knast war, keine Nacktfilme auf YouTube stellt, keinen Freund hat, dem zuweilen die Hand ausrutscht und die kein einziges Mal von der Jury beleidigt wurde. Ich schäme mich für diesen Satz: „Wie habe ich Dieter Bohlen vermisst!“ Keine Terrortränen, keine Existenzvernichtung, kein Niederbügeln. Wen interessiert schon Lena aus geordneten Verhältnissen? Dann lieber wieder den Siegel.
*norwegisch: Gute Nacht Deutschland