Jetzt jammern sie alle. Warum wollen die Europäer nicht in das schöne, große Zimmer ziehen, das ihnen die Parlamentarier – oder sind es Parlament-Arier? – aller Länder gezimmert haben? Es ist wie der sonnige, klimatisierte und ebenso ergonomisch wie praktisch durchgestylte Wohnraum mit hochwertiger Kunststoff-Einrichtung vor den Rändern der Stadt, den eine alte Frau aus der kleinen, verwinkelten Innenstadtwohnung, die aus Rentabilitätsgründen zu räumen war, nicht beziehen will. Das geht nicht in die Hirne, in diese vernagelten, die nicht begreifen wollen, dass es andere, wichtigere Werte gibt als die des Praktischen und der Rentabilität.
Frankreich und Holland haben natürlich nicht gegen die Verfassung gestimmt (sie wurde von einem Gutteil der Wähler gar nicht gelesen). Da greifen andere Mechanismen, einfachere: Man vertraut auf die Kompetenz der Sachverständigen, die schon die richtigen Formulierungen lückenlos finden werden; und man vertraut nicht blind, sondern lauscht auf die Widersprüche, die von Fanatikern jeglicher Couleur erhoben werden. Die Einwände kamen (keine Verankerung des Christentums et cetera), aber sie waren relativ dünnhäutig, hatten letztlich wenig Gewicht. Die Verfassung wird also in den Grundzügen und als Basis für weitere Arbeit und Konkretisierung schon gestimmt haben.
Das Misstrauen lag und liegt ganz wo anders. Es richtet sich gegen fremde Kultur, gegen das Fremde ganz allgemein. Und damit wurde im europäischen Einigungsprozess über Jahrzehnte Schindluder getrieben. Nie machte man sich die Mühe, über europäische Kultur als Integrationsmoment nachzudenken. Geld stand dafür kaum zur Verfügung, und das wenige wurde oft noch für europäische Selbstdarstellungs-Events ausgegeben: eine klebrige Soße aus klein gehackten Gute-Laune-Bären. Aber nicht nur Geld wurde nicht ausgegeben, es wurde sich auch kaum die Mühe gemacht, über diese Widersprüche und über das Verbindende dazwischen auch nur nachzudenken. Das kommt von alleine, wenn das andere einmal steht, meinte man in verbohrter Ökonomie- und Praxis-Orientierung. Gerade so aber ist es nicht. Erst einmal müsste die Vision entstehen und wachsen, Europa als Heimat zu verstehen (und dafür steht eine vieltausendjährige Geschichte mit gemeinsamen Grundwerten und Anschauungsformen): dass man nicht ins Fremde geht, wenn man nach Polen, Finnland oder Portugal fährt, sondern nur ins Andere. Kultur ruht auf zwei Sockeln. Auf dem Beharrlichen des Eigenen und auf der Neugier gegenüber dem Anderen.
Bleiben beide Seiten intakt, dann entsteht das Gefühl der Bereicherung. Es ist schön, wenn man ohne viel Aufwand von Budapest nach Madrid fahren kann, es ist eine gute Sache, wenn ein in Prag erarbeitetes Konzertprojekt auch in Amsterdam gehört werden kann. Es ist aufregend und spannend, wenn sich Menschen ohne Misstrauen begegnen. Wenn solches zur Selbstverständlichkeit würde, dann wäre dem Misstrauen gegenüber Europa (das einen von oben regiert, das uns bevormundet) viel an Wasser abgegraben.
Hier aber hat man in Europa fundamental versagt. Ganz im Geiste vulgärmarxistischer Ansätze setzte man allein auf die ökonomische Basis und vernachlässigte den Überbau. Und jetzt weint man, dass Europa ja etwas anderes sei als bloß eine Freihandelszone. Der Sockel der Kultur (neben Wirtschaft und Verteidigung) wurde, wenn überhaupt, nur aus losem Sand gebaut. Jetzt wundert man sich, dass der Turm kippt. Ein „Weiter so“ kann es in der Tat nicht geben. Aber auch der verordnete Stillstand des Abwartens nützt nichts. Es gilt der Neubesinnung. Und hier muss die Kultur mit allen ihren Begleiterscheinungen, zum Beispiel das Gefühl einer erweiterten Heimat, das des Wohlbehagens im Austausch wie im Erhalt der eigenen Identität, ein entschieden deutlicheres Gewicht bekommen.
Siehe auch: Gescheiterte Verfassung, fassungslose Kultur?
Die Entwicklung einer europäischen Verfassung ist gescheitert · Von Martin Hufner