Die Mitteilung an den Dear Customer kam auf schickem Briefpapier aus dem Hause Macmillan Publishers, London N1 9XW, unterschrieben von der Marketing Managerin. Es freut uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, heißt es darin im üblichen Business New Speech, dass wir die Bände 24 und 26 korrigieren und neu drucken werden.
Die Mitteilung an den Dear Customer kam auf schickem Briefpapier aus dem Hause Macmillan Publishers, London N1 9XW, unterschrieben von der Marketing Managerin. Es freut uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, heißt es darin im üblichen Business New Speech, dass wir die Bände 24 und 26 korrigieren und neu drucken werden.Die Freude dürfte sich wohl in Grenzen halten, denn für Macmillan ist neben dem beträchtlichen finanziellen Mehraufwand vor allem ein irreparabler Vertrauensverlust entstanden. Was als lexikalische und musikwissenschaftliche Großtat angekündigt worden war – das Erscheinen der zweiten Auflage von „The New Grove Dictionary of Music and Musicians“ zu Beginn dieses Jahres –, entpuppt sich nun als editorischer GAU. Natürlich gibt es kein Nachschlagewerk ohne Fehler, Unstimmigkeiten und Widersprüche (vgl. den Artikel auf S. 21 dieser Ausgabe), und auch das deutsche Konkurrenzunternehmen MGG ist davor nicht gefeit – sein falsches Todesdatum von Beethoven gilt als Lachnummer in Fachkreisen. Aber dass gleich zwei von 29 Bänden eingestampft werden, gibt zu denken.Interessant ist die Begründung: „There has been much discussion regarding errata in the articles on Stravinsky and Wagner.“ Bei zwei Koryphäen also wurde geschludert. Aber was ist wohl, fragt sich der hellhörig gewordene Customer, mit den vielen Artikeln über minder kapitalkräftige Namen? Bleiben diese vielleicht nur deswegen im Markt, weil da keine mächtige pressure group einen Neudruck fordert? Der Artikel über Schubert, so ist zu hören, soll auch nicht gerade eine Glanzleistung sein, und den Beitrag über Kagel schmückt ein Foto mit der Legende „Mauricio Kagel, 1971“, auf dem jedoch György Kurtág abgebildet ist.
Daraus dürfen Schlüsse auf den redaktionellen Sachverstand gezogen werden. An ihm scheint es offensichtlich gehapert zu haben, wie man auch einem Artikel des „Independent“ vom 30. Dezember 2000 entnehmen kann (Dokumentation unter http://www.meome.de/app/de/portal_news_article_ jsp/72831.html). Er zitiert ungenannte Mitarbeiter mit der Bemerkung von einer „teenage army of non-musicological graduates“, in deren Verantwortung die letzten Korrekturen lagen, und von einem Verlagshaus, das aufs Gaspedal drückte und jeden aus der Redaktion hinausdrängte, der es allzu genau nehmen wollte und damit das Tempo verlangsamte. Vor kurzem ist Macmillan in die Hände des deutschen Holtzbrinck-Konzerns geraten. Die Behauptung vom Zeitdruck ist nicht ganz abwegig, wenn man in Betracht zieht, mit welchen aggressiven Kostenrechnungen die Medienmultis heute um ihre Marktposition kämpfen. Es geht um Marktanteile, nicht um Inhalte.
Die Scharen von Studienabgängern aller Richtungen, Volontären, Aushilfen und Praktikanten kennt man auch vom hiesigen Medienbetrieb. Sie werden rasch durch die diversen Abteilungen geschleust, machen für wenig Geld die Arbeit, für die sonst hoch bezahlte Spezialisten beschäftigt werden müssten, und nach einem Jahr Projektmitarbeit stehen sie wieder auf der Straße. In dieser Zeit sollen sie nach dem Prinzip des learning by doing bewältigen, was früher auf der Basis jahrelanger Ausbildung und Arbeitserfahrung geleistet wurde.
Es ist der Typ des Content Managers, der hier gezüchtet wird: Heute mache ich die Hauszeitung einer Schuhfabrik, morgen die PR für eine TV-Talkshow, übermorgen schreibe ich eine Konzertkritik oder redigiere ein Musiklexikon. Die Turbo-Ausbildung an der Universität macht’s möglich. Und nach fünf Jahren Content-Praxis hat man vielleicht auch kapiert, dass sich die Konjunktion „dass“ mit Doppel-s schreibt. Gefördert und gefordert wird ein solches Berufsbild durch die New Economy, wo Flexiblität, schnelle Reaktion und „lösungsbezogenes Denken“ zu den Grunderfordernissen gehören. Nicht aber Nach-Denken: Das ist zu teuer und wirkt schon vom Wort her rückwärts gewandt, hält also nur auf.
England ist von allen europäischen Ländern dasjenige, das sich am schnells-ten und gründlichsten dem ganzen Internet- und New Media-Firlefanz unterworfen hat, mit dem die US-amerikanische Kommunikationsindustrie derzeit die Welt erobert. Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen eine sorgfältige und fundierte Aufarbeitung des musikalischen Wissens von Jahrhunderten nicht mehr funktionieren kann. Dafür sind nun erstmals die schnelllebigen Konsumgüter der Pop- und Unterhaltungsbranche lexikalisch erfasst worden – Zukunftsmusik?
In der hektischen Schlussphase der Edition sind gleich zwei Herausgeber verschlissen worden: Der verdiente Stanley Sadie, der schon den Grove von 1980 betreute, und sein Nachfolger John Tyrrell, ein Janácek-Spezialist; er hat laut „Independent“ die Personalpolitik des Unternehmens für die mangelnde Qualität verantwortlich gemacht. Nachfolgerin ist Laura Macy, Leiterin der Online-Version des New Grove. Und hier läuft der Hase lang: Das Lexikon soll offensichtlich primär zu einem Online-Medium umgemodelt werden.
Mit 190 Pfund Jahresgebühr kommt auf Dauer mehr zusammen als durch den einmaligen Verkaufspreis der Printausgabe, Lager- und Versandkosten entfallen. Und nebenbei kann man auch klammheimlich und fortlaufend all die Fehler korrigieren, die in gedruckter Form die Inkompetenz des Herausgebers für Jahrzehnte festhalten würden. Was wann und wie korrigiert wurde, braucht der User dann nicht mehr zu wissen. Das ist die neue Dynamik der Wissenschaft.